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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Polas Seele ihre neue Inkarnation gefunden. Die Familie nahm an einem gemeinsamen Essen teil; alle hatten die Haare gewaschen und trugen neue Kleider, und Tenzin verkündete mit einem besonderen Gebet das offizielle Ende der Trauerzeit. Nun hatte die Stimmung nicht mehr leise und feierlich zu sein; das Leben ging wie gewohnt weiter.
    Ich sang alle Lieder, die Pola mir beigebracht hatte, ich malte Blumen und Bäume, und überall in mir war ein Blühen und Wachsen. Ich wollte, dass der Winter vorbeiging, dass es Frühling wurde. Und der Frühling kam! Nachts ist mein Bett von Sternen eingeschlossen; ich sehe ganz deutlich, wie sie in der Luft hängen.
    Inzwischen hat mir die Lehrerin gesagt, dass es Fixsterne und Planeten gibt, und dass es eigentlich die Luftteilchen sind, die so leuchten. Und wenn ich die Sterne etwas von der Seite anblicke, kann ich doppelt so viele sehen! Manchmal stehe ich nachts auf und bewege mich durch das Glitzern. Früher schon konnte ich werden, was ich wollte: eine Blume, ein Baum, ein Tier, ein Teil vom Teppichmuster. Und wenn ich Dinge oder Leute nicht mag, kann ich durch sie hindurchsehen, bis es sie nicht mehr gibt. In der Schule grabschen mir manche Jungen unter den Pulli oder ziehen mich an den Haaren. Einige nennen mich »Schlitzauge«. Sie meinen das eigentlich nicht böse, und es ist mir egal. Wir rauchen zusammen auf dem Schulhof. Das ist den größeren Schülern erlaubt, aber nur in der
    »Raucherecke«. Ich rauche nur in der Schule; bevor ich nach Hause gehe, trinke ich eine Cola, damit ich keinen schlechten Atem habe.
    Es kommt vor, dass Mola fragt, warum meine Kleider nach Rauch 88
    riechen. Dann sage ich: »Die Mitschüler rauchen.« Das ist keine Lüge; ich mag Großmutter nicht anlügen. Es gibt auch Schüler, die mit Stoff handeln und bei Feten Pillen nehmen. Ich habe es ein paarmal probiert und werde ganz benommen davon. Die anderen lachen natürlich; es gibt auch ältere Typen, die glauben, dass ich aus Thailand komme, und die eine Massage wollen. Die lasse ich nie ran.
    Ich habe viel Kraft, aber wenn sie zu dritt oder viert kommen, sind sie stärker als ich. Wenn ich Pillen nehme, kann ich nicht mehr sprechen, nicht mehr tanzen, nichts. Meine Lippen bewegen sich und stoßen gegen glatte Wände. Das macht mir wirklich Angst. Ich sehe keine Sorgen mehr, keine Bilder; nichts, nur Finsternis. Alles ekelt mich an. Ich schließe mich im Klo ein, kotze in die Schüssel, und nach einer Weile geht es mir besser. Ich weiß, dass Drogen krank machen und dass kranke Menschen nicht singen können. Wenn ich die Lieder vergesse, die Pola mir beigebracht hat, muss ich sterben.
    Ich sorge immer dafür, dass ich die letzte Straßenbahn erwische.
    Großmutter macht sich Sorgen, wenn ich nach Mitternacht nach Hause komme.
    Als Pola noch lebte, da war ich nicht so. Eine Zigarette oder zwei vielleicht, aber nie so scharfe Sachen wie jetzt. Eigentlich brauche ich keine Drogen, ich kann das alles von selbst. Aber die Schüler bieten mir eine kleine rosa Pille an und einen Tequila, nur einen Schluck. Ich kann nicht nein sagen, sonst lachen alle über mich. Ich trinke und schlucke die Pille.
    In mir ist alles ständig in Bewegung. Die Sterne in meinem Kopf, die ordnen sich ununterbrochen neu, wie in einem Kaleidoskop.
    Wenn ich nachts nicht schlafen kann, singe ich die Strophen, eine nach der anderen; ich singe sie leise vor mich hin, damit Mola nicht wach wird. Und plötzlich – gerade in der vergangenen Nacht –, da hörte ich mich im Schlaf singen und wachte auf. Irgendwo in der Nähe rief mich eine Stimme, eine Stimme, die ich sofort erkannte.
    Ich sprang aus dem Bett, lief ans Fenster.
    »Pola, wo bist du?«
    Die Sterne waren groß und glänzend und schwammen zwischen den Bäumen hin und her. Ich fror, weil ich barfuß vor dem offenen Fenster stand. Ich leckte meinen Zeigefinger, hielt ihn in die Luft und prüfte den Wind: Geschwindigkeit, Richtung. Alles stimmte, Großvater war ganz nahe! Und plötzlich sah ich vor der Mauer auf der anderen Gartenseite einen Schatten, eine Gestalt, die sich reglos vor den weißen Steinen abhob. Ich sah kein Gesicht, nur ein wirres 89
    Herabfallen schwarzer Haare. Mein Herz hämmerte. Ob ich Angst hatte? Nein, keine Angst! Etwas in der Haltung, in der Art, wie die Gestalt in der Dunkelheit stand, strömte Zärtlichkeit und Ruhe aus.
    Ich wusste, dass sie mir vorher nie erschienen war, weil ich nicht gut genug gesungen hatte. Etwas hatte mit dem Rhythmus

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