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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Erdgeschoss fiel zu. Das prickelnde Gefühl hochgestellter Nackenhaare sandte die Botschaft »Achtung!« aus.
    Kunsang! Wieso hatte ich sie nicht kommen hören? Mit fliegendem Atem schob ich das Heft an seinen Platz zurück. Doch ich hatte Pech, meine übliche Geschicklichkeit ließ mich im Stich. Das Heft rutschte hinter den Spiegel, fiel hinter die Kommode. Hastig ging ich in die Knie, streckte den Arm aus. Meine tastenden Finger fanden das Heft, zogen es hervor. Durch das Pochen in meinen Schläfen hörte ich Schritte im Flur, dann im Treppenhaus. Gerade als ich wieder auf die Füße kam, das Heft mit beiden Händen an mich gepresst, ging die Tür auf, und Kunsang trat ins Zimmer.
    Sekundenlang starrten wir uns an. Mir war, als sähe ich sie zum ersten Mal richtig. Sie wurde siebzehn und war nahezu erwachsen, das hatte ich vergessen. Ich hatte immer nur das Kind in ihr gesehen, kein einziges Mal die junge Frau. Sie war klein von Gestalt, aber in ihrer Haltung lag etwas, das sie größer erschienen ließ. Ihr Körper war kräftig, ihre Hände waren klein. Die Füße steckten in den üblichen Turnschuhen, aber ich wusste, dass sie schmal waren, mit einem hohen Rist, wie bei einer Tänzerin. Ihr Profil war scharf geschnitten. Ihr Haar war lang und glatt und schimmerte bläulich.
    Die Augen waren hellbraun, fast goldfarben, mit einer sehr großen Pupille; doch sie waren jetzt zusammengekniffen, in einem Ausdruck von Zorn und Verzweiflung. Einige Sekunden vergingen.
    Ich brach als erste das Schweigen mit einer Bemerkung, weder Wahrheit noch Lüge, die erste, die mir in den Sinn kam.
    »Das Heft lag am Boden.«
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    In ihren Augen zuckte ein Funken auf. Sie fragte nicht, ob ich darin gelesen hatte, sondern sagte:
    »Ich bin nicht mit dem Fahrrad gekommen. Man hat mir den Lenker geklaut.«
    In den Schulen heutzutage wurde viel gestohlen: Windjacken, Fahrradsattel, Pausenbrote, alles. Die Zahl der Schüler, die Waffen bei sich trug, nahm zu. Ich fand diese Welt erschreckend, Kunsang offenbar nicht; sie war ja mit ihr groß geworden.
    »Es tut mir Leid«, sagte ich. »Ich verstehe dich.«
    Sie schluckte, eine kurze Reaktion der Unsicherheit.
    »Ach ja?«
    Sie hatte sich wieder in der Gewalt. Ihre Stimme klang ruhig und hochmütig. Sie sah mich an, langsam von oben bis unten. Sie hatte eine besondere Art, mich – eine erwachsene Frau – zu beschämen.
    Aber das war jetzt ihre Genugtuung. Ich ließ es darauf ankommen.
    »Doch, ich schon.«
    Sie fuhr fort, mich anzustarren, und sagte eine ganze Weile nichts. Dann warf sie ihr strähniges Haar aus dem Gesicht.
    »Du weißt nicht, wie das ist«, sagte sie finster und dumpf.
    Ich widersprach.
    »Ich glaube, dass ich das weiß. Wahrhaftig.«
    Ihre Augen flackerten, dann fanden sie wieder Halt und sahen mich an. Sie schienen mich bis ins Innerste zu durchdringen. Sie hob leicht das Kinn.
    »Nein.«
    Darauf gab ich keine Antwort. Alles, was ich hätte sagen können, würde sie noch mehr beleidigen. Nun, sie mochte ehrlich glauben, dass ich sie nicht verstand; jedenfalls kannte ich ihre Gefühle besser als sonst wer. Gleichwohl staunte ich, wie sie sich beherrschen konnte, mit so viel Ruhe und Entschiedenheit. Ich hätte sicherlich eine Riesenszene vom Stapel gelassen. Ich bewunderte ihre Kraft, und gleichzeitig war sie mir unheimlich. Beinahe hätte ich es ihr sagen können. Aber sie kam mir zuvor.
    »Du kannst das Heft behalten«, sagte sie.
    Welche Freude hatte ich gehabt, sie heranwachsen zu sehen, verschlossen zwar, ja, immer verschlossen, aber mit der unbefangenen Anmut der Kindheit. Für einen Augenblick kam sie mir viel älter vor, als sie eigentlich war, als hätte sie ganz rasch viele zukünftige Jahre erlebt. Es handelte sich um eine dunkle und bestürzende Veränderung, die von selbst und auf so natürliche Weise 93
    vor sich gegangen war, dass ich sie bisher nicht wahrgenommen hatte. Ich versuchte mich zu erinnern, wie es war, als ich sie als kleines Mädchen in den Armen hielt, sie badete und kämmte, sie zu Bett brachte, ihr Heftpflaster auf die zerschundenen Knie klebte.
    Aber alles war fort. Mir schien es so, als seien diese Erinnerungen von ihr bereits für immer versunken. Es waren ihr Zorn und ihr Schmerz, die das ganze Zimmer erfüllten. Dieser Sturm der Gefühle, fremdartig und gefährlich, traf mich mit voller Wucht. Und gleichzeitig lag es in der Natur dieser Gefühle, nicht ausgedrückt werden zu können, sozusagen verschlossen zu bleiben. Zu begreifen war

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