Die Tochter der Tibeterin
nicht gestimmt. Vorhin, im Schlaf, war alles so gewesen, wie es sein musste. Ich rief leise: »Pola!« Die Gestalt an der Wand schien zu zögern. Ihr Haar war mit einem roten Band durchflochten und von einem leuchtenden, quecksilbernen Schein umgeben. Pola hatte kein schwarzes Haar, schon lange nicht mehr. Er hatte überhaupt keine Haare auf dem Kopf. Bei diesem Gedanken unterdrückte ich ein Kichern; fast gleichzeitig bewegte sich der Schatten leicht: Ich hatte den Eindruck, als würde er sich auflösen.
»Warte!«, rief ich. Leise begann ich zu singen, hielt gewissenhaft den Rhythmus ein. Mit jeder Strophe wuchs in mir eine Art Druck, der sich zum Schluss in einem tiefen Röcheln Luft machte. Ja, das hörte sich komisch an! Ich musste lachen, und der Schatten verschwand im gleichen Atemzug. Du dumme Kuh, sei nicht übermütig, schimpfte ich mich. Noch einmal, besser! Also fing ich wieder von vorne an. Sekunden vergingen, und da rührte sich etwas vor der Wand. Eine rasche, lautlose Bewegung: Der Schatten war wieder da! Einfach so, er schien von nirgendwoher zu kommen. Ich blickte angestrengt hinüber. Pola? Nichts – keine Antwort, keine Bewegung. Und plötzlich erkannte ich ihn.
»Onkel Atan!«
Er stand nicht auf der Erde, schwebte irgendwo im Helldunkel, wie ein Mensch in einem Wasserstrom. Er kam auf mich zu, glitt mir in einem Luftwirbel entgegen. Ich fühlte mich bleischwer, ich konnte mich nicht rühren. Er beugte sich über mich. Ich spürte seinen warmen Atem; er blies mir in die Augen und über den Kopf. Ein Geräusch wie von Flügeln strich über meine Stirn, meine Lippen.
Als er beide Arme um mich schlang, senkte sich sein Haar wie eine dichte schwarze Wolke auf mich herab und löschte mein Denken aus. Mein Körper wurde weit, wie ausgehöhlt. Ich machte die Augen fest zu, um die Wärme, die mich ganz ausfüllte, nicht zu verlieren.
Mein Herz schlug heftig und laut. Wir schaukelten und wiegten uns
– endlos. Und dann, auf einmal, war es vorbei. Vielleicht war es schon lange vorbei gewesen. Ich stand am offenen Fenster, mir taten die Knie weh, und ich fror ganz erbärmlich. Doch ich war glücklich.
»Ich habe es geschafft, he? Ich habe es geschafft, mein Onkel war 90
da!«, rief ich Pola triumphierend in Gedanken zu. Ich hörte ihn in weiter Ferne singen, durch die Entfernung gedämpft. Und schließlich spürte ich nur noch einen zurückgelassenen Atemzug in der Luft, ein verklingendes Echo.
Ich verkroch mich im Bett, zog die Decke bis über meinen Kopf, versuchte meine kalten Füße zu wärmen. Und dann schlief ich, und im Schlaf fiel mir das Lied ein, das mein ganz persönliches Gebet sein würde. Am Morgen hatte ich es noch gut im Gedächtnis, und ich schrieb es rasch auf, bevor ich zur Schule ging. Später dachte ich mir eine Melodie aus, die dazu passte. Und hier ist mein Lied:
Große Wolke, du ziehst vorbei
Du warst mal tot,
Jetzt bist du da, voller Regen.
Du kommst von Tibet!
Große Wolke, ich bin ein Baum-Mensch.
Mein Baum ist die Buche,
Die Buche in unserem Garten.
Schicke keinen Blitz,
Der sie spaltet!
Sonst spaltet er mein Herz.
Und ich muss sterben, wie du…
Ich sehe gerade, dass ich keinen Platz mehr habe. Ich fühle das Heft in meinen Händen zittern wie ein Vogel, der mit den Flügeln schlägt. Das sind meine Gedanken, die so wild flattern. Irgendwie muss ich sie beruhigen. Jetzt geht es nicht, sonst komme ich zu spät; wir haben eine Mathe-Prüfung. Aber heute Nachmittag werde ich das Heft unter der Buche vergraben. Ich werde ein rotes Fadenkreuz um einen Zweig knüpfen, und den Baumgeist rufen, damit er mein Heft bewacht. Gleich nach dem Unterricht gehe ich ins Kaufhaus und hole mir ein neues.
91
9. Kapitel
I ch klappte Kunsangs Heft zu und saß ein paar Atemzüge lang da, wie erstarrt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie die ganze Zeit neben mir stand. Nichts war mehr so wie früher. Auch ich hatte als Mädchen ein Tagebuch geführt. Aber was hatte ich geschrieben?
Nur belangloses Zeug: Ich habe einen blauen Pulli gekauft, ich esse gerne Schokolade, Soundso ist doof (was bedeutete, dass ich in ihn verliebt war und er sich für ein anderes Mädchen interessierte).
Solche Dinge eben. Bei Kunsang – nichts dergleichen. War sie verrückt? Nein, gewiss nicht. War sie neurotisch, autistisch? Ich fand keine Bezeichnung für sie, fühlte ein tiefes Unbehagen und ziemlich heftige Kopfschmerzen. Ich musste mir Zeit nehmen, nachdenken…
Die Tür im
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