Die Tochter der Tibeterin
da nichts, einzig diese Wunde, die zwischen uns klaffte, mitten durch uns hindurchging. Ich bemühte mich mit aller Kraft, zu tun, als ob nichts wäre. Ärzte können heucheln, wenn die Situation es erfordert, man hat die Kranken mit Rücksicht zu behandeln. Und so dämpfte ich meine Stimme und sagte ruhig:
»Es ist dein Heft. Was soll ich damit?«
»Es lesen, wenn es dir Spaß macht. Mir ist es egal.« So jung sie auch war, ich sah ihre Haltung, unnachgiebig, unversöhnlich. Sie mochte es als Tragödie empfinden, aber ließ sich nichts davon anmerken. Dazu war sie viel zu gekränkt. Ich verteidigte mich nur schwach; es war meine Schuld. Ich dachte an Chodonla, und wie ich sie geliebt hatte, damals, als kleines Mädchen. Chodonla, meine Schwester; ich suchte sie in meinem Gedächtnis; sie blieb unauffindbar. Für Kunsang hatten Atan und ich unser Leben aufs Spiel gesetzt. Jetzt warf sie mir ihre Dankbarkeit ins Gesicht, und ich konnte ihr deswegen nicht einmal böse sein. Ich empfand einen pochenden Schmerz; das Salz der Bitternis trocknete mir den Mund aus. Denn der tiefste Grund meines Zornes war Liebe, war Stolz auf sie.
»Ich habe es schon gelesen«, sagte ich.
Ihre dichten Wimpern flatterten. Stumm nahm sie das Heft, das ich ihr hinhielt. Sie sah mir starr in die Augen, während sie langsam begann, das Heft zu zerreißen. Wohlbedacht und ohne ein Wort, eine Seite nach der anderen. Fassungslos sah ich zu, wie die Papierfetzen auf den Boden fielen. Und bei jeder zerrissenen Seite spürte ich, fast körperlich, den gleichen Riss durch Herz und Verstand. Die letzten Seiten schleuderte sie mir fast ins Gesicht. Ich blinzelte, wich leicht zurück. Meine Wangen brannten feuerrot. Alle meine Nerven schienen zu vibrieren. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich ohrfeigte.
Doch das einzige, was ich sagen konnte, war: 94
»Tenzin kommt heute Abend zum Essen. Sieh zu, dass du dich anständig benimmst.«
Hatte sie überhaupt zugehört? Sie sah mich an, mit steinernem Ausdruck, als ich an ihr vorbei aus dem Zimmer ging.
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10. Kapitel
M eine Mutter bereitete in bedrückter Stimmung das Essen vor; ich half ihr dabei. Wir sprachen nur das nötigste. Seitdem er Mönch war, aß Tenzin kein Fleisch mehr. Amla hatte Suppe und Teigtaschen mit Gemüse zubereitet. Oft ließ man die Teigtaschen zu lange brutzeln, so dass sie leicht angebrannt schmeckten. Aber bei Amla waren sie immer genau richtig. Dazu gab es eine schöne Salatplatte. Zum Nachtisch hatte ich Windbeutel mit Sahne gekauft, weil beide – Tenzin und Kunsang – dieses Gebäck besonders mochten. Aber die Stimmung würde deswegen nicht entspannter sein. Amla und ich arbeiteten in der Wohnküche, ich holte Teller und Gläser aus dem Schrank. Es war ein kalter Abend im Frühling, der Himmel war gläsern rot. Der Wind kam vom Westen und brachte den Lärm des Wochenendverkehrs mit. Kunsang hatte die Tür zugeknallt und schmollte in ihrem Zimmer.
»Sie soll kommen und den Tisch decken«, sagte ich ungehalten.
»Ach, lass sie in Ruhe«, meinte Amla. »Sie muss nachdenken.«
»Beim Nachdenken kommt nicht immer was heraus!«, zischte ich.
Amla sah mich von der Seite an.
»Verdient sie kein gutes Wort?«
Ich holte tief Luft, stellte klirrend die Teller auf den Tisch.
Als inkarnierter Lama war für Tenzin der Ehrenplatz vorgesehen.
Nach alter Sitte wurden ihm die Speisen auf einem besonderen Tablett serviert. Meine Mutter legte großen Wert auf solche Förmlichkeiten.
»Sie ist aufrichtig«, sagte ich. »Zumindest das.«
»Die Windbeutel wird sie mögen.« Amla stellte das Kuchenpaket in den Kühlschrank. »Vergiss nicht, Tara, sie hatte eine schwierige Kindheit und kam erst mit zwölf in die Schweiz. Das spielt eine Rolle.«
Ja, sicher, dachte ich, Kunsangs Identitäts- und Pubertätsprobleme mochten infolge des Kulturwechsels dramatischer verlaufen sein, als wir es zugeben wollten. Aber das war nicht alles.
»Nein«, sagte ich wütend, »die Wahrheit ist viel… viel komplizierter. Siehst du, Amla, Kunsang ist irgendwie… wie Pala.«
Sie stand vor dem Herd, wandte sich langsam um und blickte mich an, aus ihren schönen leuchtenden Augen, die plötzlich getrübt 96
waren.
»Wie Pala? Willst du sagen, dass sie an andere Orte geht?«
Ich wunderte mich nicht über die merkwürdige Bezeichnung. Als Buddhistin begegnete Gyala der unsichtbaren Welt ohne Befangenheit. Immerhin, wie sie wirklich darüber dachte, hatte ich bisher nicht herausbekommen. Sie schwieg
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