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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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aus Zurückhaltung – und ich aus Höflichkeit. Auch jetzt nickte ich nur stumm; ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Sie fragte auch nicht, was Kunsang denn eigentlich aufgeschrieben hatte. Sie hätte es als taktlos empfunden.
    Sie hob den Schöpflöffel, kostete ein wenig Suppe und nahm den Topf vom Feuer, bevor sie dem Faden ihrer Gedanken folgte.
    »Ich habe immer gedacht, dass sich unsere Welt, wie unser Leben, nach vorn bewegt. Vielleicht habe ich in diesem Punkt unrecht? Die Vergangenheit ist immer da. Ja, ich denke, dass… dass eine Ähnlichkeit besteht. Aber dein Vater hat sich erst später mit diesen Dingen befasst. Kunsang ist noch so jung!«
    Sachlich fügte sie hinzu:
    »Und was sollen wir jetzt machen?«
    Ich war froh, dass sie ohne Pathos sprach, und ihre Frage auch nicht resigniert klang. Ich sagte:
    »Ich weiß nicht, ob wir ihr Verhalten ändern können.«
    »Muss das sein?«, fragte Amla gelassen.
    Ich zögerte.
    »Weißt du, es macht einen Unterschied, ob man die Dinge unausgesprochen lässt oder nicht.«
    Sie nickte geistesabwesend.
    »Glaubst du, dass sie in Tibet glücklich geworden wäre?«
    »Sie wäre ja nicht in Tibet geblieben«, sagte ich hart. »Man hätte sie in China erzogen, wie Chodonla.«
    »Spielt das eine Rolle?«, fragte sie unglücklich.
    Ich lachte bitter auf.
    »Jetzt gerade denke ich… nun ja, vielleicht hätte es ein wenig genützt. Der Gedanke ist nicht gerade schön«, setzte ich hinzu.
    »Du kannst nichts dafür«, sagte sie sanft.
    »Vielleicht weiß Tenzin Rat«, sagte ich matt.
    Ich klammerte mich an einen Strohhalm. Kunsang würde Tenzin zumindest mit Respekt begegnen. Der Gedanke schoss mir schmerzhaft durch den Kopf, dass es vielleicht schon zu spät war.
    Es schellte: Tenzin! Ich ging an die Tür. Es wurde dunkel, und 97
    die Tür war nicht abgeschlossen. Das sieht Amla nicht ähnlich, dachte ich, sie muss ziemlich verwirrt sein. In letzter Zeit waren in der Gegend Einbrüche verübt worden, und Amla war vorsichtig geworden.
    Es war eine Erleichterung für mich, Tenzin zu sehen, so groß, so vertrauenerweckend. Über dem Mönchsgewand trug er eine dunkle Windjacke. Er war mit dem Zug und dann mit der Straßenbahn gekommen.
    »Es tut mir Leid«, entschuldigte er sich. »In Zürich findet ein Fußballspiel statt. Und die Straßenbahn hatte Verspätung.«
    »Schön, dass du da bist«, sagte ich in bedeutungsvollem Ton. Er nickte mir zu; er hatte verstanden, dass etwas vorgefallen war. Amla begrüßte ihn voller Stolz und Zärtlichkeit. Er segnete sie, legte ihr ein weißes Kata um den Hals. Tenzins Besuche bei uns waren selten; seine vielen Reisen nach Indien, seine verschiedenen Aufgaben beanspruchten einen Großteil seiner Zeit. Amla erwartete ihn nicht, sie hoffte auch nicht, dass er kommen würde. Doch jeder Augenblick seiner Anwesenheit war für sie ein unermesslicher Schatz; seine Anwesenheit versetzte sie zurück in jene Zeit, als ihre Hände noch für seine Nahrung, seine Kleidung sorgten. Jetzt leuchtete ihr Gesicht vor Freude und mütterlichem Stolz. Umso mehr verletzte es mich, dass Kunsang es nicht für nötig hielt, Tenzin zu begrüßen. Ich hob den Kopf und rief: »Kunsang! Onkel Tenzin ist da!«
    Stille. Ich zog wütend die Schultern hoch. Amla schüttelte nachsichtig den Kopf.
    »Sie wird schon kommen. Wir essen gleich. Du musst hungrig sein«, setzte sie, an Tenzin gewandt, hinzu. Er blinzelte amüsiert, hängte seine Windjacke an die Garderobe.
    »Ja, ich gebe zu, dass ich das Essen zu Hause vermisse. Im Kloster kochen alle schlecht. Ich weiß nicht, warum das so sein muss.«
    Er lachte, und wir lachten mit ihm.
    Er ging in die Wohnküche, setzte sich. Ich schenkte ihm frischen Buttertee ein. Er trank ihn mit Behagen.
    »Wirst du hier übernachten?«, fragte Amla. »Ich habe dein Bett bezogen.«
    »Ja, danke. Ich schlafe gerne hier. Aber morgen muss ich früh raus. Mein Zug geht um viertel vor sieben.«
    »Ich mache dir ein gutes Frühstück«, sagte Amla.
    »Kunsang!«, rief ich laut. Wieder keine Antwort. Tenzin runzelte 98
    leicht die Stirn.
    »Was ist geschehen?«
    Ich seufzte.
    »Es wird nicht einfach mit ihr sein.«
    Er schmunzelte leicht.
    »Sollte es denn einfach sein?«
    Amla stellte die Salatschüssel auf den Tisch.
    »Geh und hol sie«, sagte sie zu mir. Die Missbilligung stand ihr deutlich im Gesicht geschrieben. Kunsang benahm sich unhöflich.
    Ich seufzte und erhob mich. Los, Tara, du Feigling! Ich ging aus der Wohnküche,

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