Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
lief die Treppe hinauf. Die Tür zu Kunsangs Zimmer war nur angelehnt. Ich nahm die letzten Stufen und klopfte.
    »Kunsang? Wir essen.«
    Keine Antwort. Ich spürte, wie meine Knie weich wurden.
    »Kunsang!«
    Stille. Ich vernahm nur das Geräusch meines eigenen Atems. Ich holte gepresst Luft, stieß die Tür auf. Das Zimmer war dunkel und leer. Kunsang war fort!
    Ich lief die Treppe hinunter.
    »Sie ist nicht da!«
    Amla, die neben Tenzin stand und seinen Teller füllte, hielt in der Bewegung inne.
    »Wo ist sie denn?«
    Ich fuhr mit den Händen über mein Gesicht.
    »Vielleicht hat sie sich versteckt.«
    »Unsinn«, sagte Amla energisch. »Hängt ihre Jacke noch da?«
    Ich ging zur Garderobe. Kunsangs Windjacke hing nicht an ihrem Platz. Ich kam zurück.
    »Sie ist weg.«
    Amla biss sich leicht auf die Lippen.
    »Wie sonderbar! Sie muss gegangen sein, als wir in der Küche waren. Wir haben sie nicht gehört.«
    »Die Haustür war nicht abgeschlossen.«
    Tenzin erhob sich. Sein Gesicht war gespannt.
    »Wo kann sie sein?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Es ist zu ärgerlich, aber es ist meine Schuld. Ich habe in ihrem Tagebuch gelesen. Sie hat mich dabei erwischt.«
    Tenzin blickte mich forschend an, als ob er plötzlich eine fremde Seite an mir entdeckte. Doch er sagte lediglich: 99
    »Sowas kann vorkommen.«
    Er wollte mich nicht kränken. Ich war in eine Art Trance gefallen. Die Küche, die Gesichter verschwammen vor meinen Augen. So ging es nicht weiter. Ich nahm mich zusammen.
    »Sicherlich ist sie bei Freunden. Amla, weißt du, mit wem sie verkehrt?«
    Amla verbarg beide Hände unter ihrer bunt gestreiften tibetischen Schürze.
    »Warte, lass mich überlegen. Da ist eine Katia. Ja, Katia Imboden, so heißt sie.«
    »Ich rufe sie an.«
    »Das wäre wahrscheinlich das Beste.«
    Der Anruf war kurz. Zuerst war Katias Mutter am Telefon. Nein, Kunsang sei nicht da. Dann kam Katia selbst. Zurückhaltend, aber nicht unkooperativ. Sie nahm an, dass Kunsang bei Freunden war.
    Sie wusste allerdings nicht, bei welchen. Hatte Kunsang denn so viele Freunde? Ja doch, eine ganze Menge, meinte Katia. Sie nannte mir einige Namen. Amla hatte diese Namen nie gehört. Tenzin saß ruhig am Tisch, nahm gedankenverloren ein paar Bissen zu sich. Ich tippte eine Nummer nach der anderen. Ruth, Nadia, Seiina, Kevin.
    Bei Kevin erfuhr ich mehr. Die Jungenstimme klang trotzig und herausfordernd.
    »Kunsang? Wenn die durchdreht, dann ist sie bei Jaime.«
    »Jaime?«
    »Jaime Perez, ein Typ aus der Clique. Kunsang geht oft zu ihm.«
    Ich befeuchtete meine trockenen Lippen.
    »Oft?«
    »Na ja, so am Wochenende…«
    »Kann ich seine Nummer haben?«
    »Der hat ein Handy, die Nummer weiß ich nicht. Seine Mutter ist meistens da, aber die versteht kaum Deutsch. Sie ist Spanierin.«
    »Ich möchte ihre Adresse haben.«
    »Weiß nicht, ob er das schätzt…«
    Ich war selber überrascht, wie ruhig meine Stimme klang.
    »Kevin, wenn du nichts sagst, rufe ich die Polizei.«
    Er zögerte, dann gab er mir die Adresse. Tenzin besah sich den Zettel, mit gerunzelten Brauen.
    »Kreis vier«, sagte er.
    Wir tauschten einen betroffenen Blick. Kreis vier war ein Viertel, das in Zürich einen schlechten Ruf hatte.
    100
    »Wir fahren mit meinem Wagen«, entschied ich.
    Bevor wir uns auf den Weg machten, zwang uns Amla, etwas zu essen und zu trinken, damit wir genug Kraft hatten. »Nimm einen Schirm, es gibt Regen«, sagte sie außerdem zu mir, bevor wir uns auf den Weg machten. Amla verlor nie den Sinn für das Naheliegende. Es regnete bereits ziemlich stark. Die Tropfen prasselten auf das Blechdach. Auf der Fahrt erzählte ich Tenzin von Kunsangs Tagebuch. Ich achtete auf die Straße und sprach, ohne ihn anzusehen. Dabei zwang ich mich gewaltsam zur Sachlichkeit und merkte, dass meine Worte nur ein kühles Mindestmaß aussagten, eine Art klinische Zusammenfassung. Zu mehr war ich nicht in der Lage. Es war auch nicht nötig. Tenzin hatte mehr Scharfsinn. Er wusste besser als ich, was tief im Verborgenen lauerte, ahnte die Dinge hinter den verschlossenen Türen der Gefühle. Lange Zeit saß er schweigend in der Dunkelheit. Endlich sprach er, wobei er den Kopf nur ein ganz klein wenig wandte.
    »Wir folgen mit Logik dem geraden Weg unserer Gedanken.
    Kunsang nicht. Was sie sieht und spürt, nimmt sie mit ihrem Körper auf. Der Kampf mit diesen unsichtbaren Dingen ist eine kräftezehrende Aufgabe. Du musst dir das so vorstellen: Wenn sie etwas zu greifen versucht,

Weitere Kostenlose Bücher