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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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hält eine Hand in ihr ihre Hand zurück, so dass sie nicht zum Ziel kommt. Ich denke, dass ihr Körper nichts auf direktem Wege, sondern nur auf Umwegen erreichen kann.«
    Die Scheiben hatten sich in Spiegel verwandelt und warfen sein Gesicht von der anderen Seite des Wagens zurück.
    »Was soll ich tun, Tenzin?«
    »Das entscheidest weder du noch ich. Das entscheidet Kunsang.
    Es ist eine Zeit des Lernens für sie.«
    »Sie hat viel Phantasie.«
    »Auch Phantasie und Traum tragen dazu bei, den Menschen zu formen. Etwas in ihrem Inneren ist dabei zu erwachen.«
    Ich schluckte schwer.
    »Ich fühle mich so ratlos!«
    »Wenn wir dieser Ratlosigkeit ausweichen, würden wir das Leben verleugnen.«
    »Was geht in ihr vor, Tenzin?«
    »Sie macht eine Verwandlung durch.«
    Tenzins hehre Gedankengänge machten mich allmählich kribbelig.
    »Als Ärztin kann ich mir nicht leisten, ratlos zu sein, tut mir 101
    Leid!«
    »Ich schätze diese Energie sehr.«
    Ich erwiderte bitter:
    »In der Praxis bin ich es, die Fragen stellt. Zur Heilung der Kranken sind sie bereits vorgegeben, vorformuliert. Aber bei Kunsang spüre ich nichts, kein Echo. Das ist eine Abschottung, eine innere Abschottung…«
    Wir warteten an einer Kreuzung, dass die Ampel grün wurde.
    Tenzin wischte mit der Hand über die beschlagene Scheibe.
    »Wir tragen die Vorfahren in unserem Fleisch. So ist das von Anfang an. Es geht eine Strömung durch Zeit und Raum, in der sich das ganze Gewicht des Lebens zeigt. Wer weiß, welche Vorfahren in Kunsang wirken? Sie müssen sehr stark sein.«
    Badenerstraße, ein heruntergekommener Wohnblock. Es war inzwischen zehn, aber noch viel Verkehr. Ich zeigte auf das Namensschild. C. Perez, vierter Stock. Im Hausflur war das Neonlicht schummrig, roch es nach Suppe und kalter Zigarettenasche. Vierte Etage. Ich drückte auf den Klingelknopf.
    Eine ganze Weile war es still. Dann wurde hinter der Tür ein undeutliches Geräusch hörbar. Ich klopfte. Eine Frauenstimme stellte eine Frage. Ich klopfte abermals.
    »Bitte, machen Sie auf. Ich suche Kunsang.«
    Der Riegel wurde zurückgeschoben. Die Tür ging einen Spalt auf. Vor mir stand eine kleine Frau, so an die vierzig, mit einer altmodischen Dauerwelle. Sie hatte große braune Ringe unter den Augen; mir fiel ihre ungesunde gelbliche Hautfarbe auf. Für eine Leberkranke war sie zu dünn. Sehr wahrscheinlich war Überanstrengung die Ursache.
    »Frau Perez?«, fragte ich höflich.
    »Si, estoy la Senora Perez.« Ihr Blick glitt an mir vorbei, auf Tenzin, und sie deutete verlegen einen Gruß an.
    »Ich möchte gerne mit Jaime sprechen«, sagte ich. »Er ist doch Ihr Sohn, oder?«
    Sie nickte, verschlossen, aber nicht unfreundlich. Ihre Stimme hörte sich weich an; sie wirkte, was ihre Kleidung und ihr Auftreten anging, bescheiden und von stiller Würde erfüllt.
    »No esta aqui«, erwiderte sie.
    »Er ist nicht da«, übersetzte Tenzin und lächelte. Ich wusste, dass Tenzin etwas Spanisch sprach. In Barcelona gab es ein kleines tibetisches Kloster, wo Mönche Uhren herstellten. Im Rahmen seiner 102
    PR-Tätigkeit hatte sich Tenzin einige Male dort aufgehalten. Er stellte der Frau ein paar Fragen, und sie antwortete mit zunehmender Bereitwilligkeit. Das Lächeln, das ihre herben Züge belebte, war müde, aber herzlich. Tenzin sah mich an.
    »Kunsang war da. Sie sind zusammen fortgegangen.«
    »Weiß seine Mutter, wo sie sein könnten?«
    Ihr Lächeln verschwand. Sie schüttelte tadelnd den Kopf, sprach weiter. Tenzin hörte aufmerksam zu, bevor er sich wieder mir zuwandte.
    »Sie sagt, Jaime geht viel aus. Sie fragt ihn nicht, woher er das Geld hat. Sein Vater war Schulhausmeister, aber er ist vor fünf Jahren gestorben. Sie selbst arbeitet als Putzfrau. Jaime machte eine Lehre als Friseur, aber er nahm Geld aus der Kasse und wurde gefeuert. Jetzt hängt er mit Freunden herum. Heutzutage sind die jungen Leute schwierig, meint sie. Aber sie kann Jaime nicht an die Luft setzen, er hat ja nur noch sie. Und er tut ja doch, was er will.«
    »Wo ist er?«
    Wieder ein Wortwechsel auf spanisch.
    »Sie meint, im ›Omar‹, ein paar Straßen weiter von hier. Oder im
    ›Phuket‹. Jaime trifft sich da oft mit Freunden. Und… «
    Frau Perez legte mir plötzlich ihre kleine Hand auf den Arm und sprach ein paar Worte, wobei ihre kränklichen Augen mich eindringlich musterten. Tenzin nickte mir zu.
    »Sie findet Kunsang nett. Sie sagt, es sei nicht gut, dass sie in solchen Lokalen verkehre.«
    Wir

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