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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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hinten im Bus, der sich, zu meiner großen Erleichterung, auch bald wieder in Bewegung setzte. Wieder verging eine gute Stunde, bis der Bus auf einer Passhöhe hielt. Die letzte Strecke nach Trinle Dzong musste ich zu Fuß gehen. Es war sehr heiß; der Himmel glühte wie stumpfes Glas. Obwohl es geregnet hatte, trocknete der Boden schnell. Ein junger Mönch kam vorbei, grüßte höflich. Seine scharlachrote Robe wehte im Wind wie ein Blütenblatt. Ein kleiner Bach floss träge unter den Bäumen. Bald kam das Dorf in Sicht. Alte Steinmauern umgaben die ärmlichen Häuser, Ziegen meckerten, in einem Feld graste ein Maulesel und schlug mit dem Schwanz, um die Fliegen abzuwehren. Ein Mädchen in einem geflickten Kleid und mit zerlöcherten Turnschuhen trieb eine grunzende Muttersau und ein halbes Dutzend quiekender schwarzer Ferkel vor sich her. Ich fragte 164
    nach Ani Wangmo; das Mädchen wies scheu auf einige verlotterte Häuser am Abhang. Einen Augenblick später trat ich durch einen baufälligen Torbogen in einen kleinen Hof. Während ich unschlüssig dastand, sprang mir ein zottiger Hund recht unfreundlich bellend entgegen. Eine Frau kam aus einer Tür, rief ihn energisch zurück. Sie hatte ein dunkles, faltiges Gesicht und trug ihr graues Haar in dünne Zöpfe geflochten. Ihr misstrauischer Ausdruck verschwand, als ich meinen Namen nannte und nach Ani Wangmo fragte. Sofort begrüßte sie mich in der vertrauten Art der einfachen Leute.
    »Ja, ja, sie ist hier! Wie wird sie sich freuen! Ich bin Sonam, ihre Cousine. Komm herein, komm herein!«
    Das Haus hatte, wie alle anderen, ein vorspringendes Dach aus vertrockneten Ästen. Ich betrat einen niedrigen, dürftig eingerichteten Raum. Auf einem kleinen Hausaltar mit einer Anzahl billiger Kultgegenstände brannten zwei Butterlampen vor einem vergilbten Foto Seiner Heiligkeit. Bilder vom Dalai Lama waren in Tibet verboten; offenbar hatte sich noch kein Schnüffler die Mühe gemacht, in diesem alten Dorf die Häuser zu durchsuchen. Ich nahm meinen Rucksack ab und setzte mich auf die mit zerschlissenen Teppichen belegte Bank, froh, im Schatten zu sein. Sonam war im Nebenraum verschwunden; ich hörte das leise Murmeln von Stimmen, nach einer Weile ein Geräusch. Sonam war wieder da und stützte eine uralte Frau, die schwerfällig einen Fuß vor den anderen setzte. Ihre Wirbelsäule war verkrümmt, und ihr Schädel war durch das spärliche Haar hindurch blass wie ein Kinderschädel. Ich stand auf.
    »Ani Wangmo! Wie geht es dir?«
    Sie blinzelte; ihr Gesicht bekam auf einmal einen erschrockenen Ausdruck.
    »Chodonla!«
    Ich hörte echte Panik in ihrer Stimme und beeilte mich, sie zu beruhigen.
    »Nein, ich bin Tara, ihre Zwillingsschwester. Du kennst mich doch!«
    Sie spähte zu mir herauf, eine kranke Frau, ihrem Ende nahe, mit einem verstörten Blick in den Augen, die plötzlich erfreut aufleuchteten.
    »Tara! Jetzt entsinne ich mich! Oh, es ist schlimm! Nicht nur meine Knochen sind lahm, auch mein Gedächtnis taugt nichts mehr.
    Setz dich, setz dich doch! Du bist sicher müde!«
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    Ich half der alten Frau, die sich unter großen Schwierigkeiten auf der Sitzbank niederließ. Ihre Wangen waren jetzt gerötet. Sie schien aufgeregt und glücklich. Während Sonam Buttertee aus einem Blechkrug in eine Tasse goss, sprach Ani Wangmo keuchend weiter:
    »Kunsang war hier! Wie oft habe ich gebetet, sie wiedersehen zu dürfen, bevor ich sterbe. Die Götter haben meinen Wunsch erfüllt!
    Sie war da, bei mir. Ich dachte, sie hätte mich vergessen… aber nein!
    Sie erinnerte sich an alles, an die Geschichten, die ich ihr erzählte, an die Spiele, die wir zusammen spielten…«
    Sonam nickte mir zu.
    »Sie ist ganz plötzlich hier aufgetaucht. Alle im Dorf waren beeindruckt. Es ist selten, dass Tibeter aus dem Ausland den Weg zu uns finden…«
    Ich nahm die dargebotene Tasse, blies den Schaum etwas vom Rand weg.
    »Wie lange war sie hier?«
    Ani Wangmo wischte sich mit der Hand über die Augen.
    »Oh, ziemlich lange! Sie saß nicht untätig herum, glaube das ja nicht. Sie machte sich nützlich im Haushalt, sie half Sonam im Garten und auf dem Feld. Wir haben ein kleines Weizenfeld… Ich sagte zu ihr, lass das, du machst dir die Hände kaputt, aber sie lachte nur und sagte nein, nein, das gefällt mir! Entschuldige Tara, ich darf dich doch Tara nennen, nicht wahr? Es tut mir Leid, ich kann die Tränen nicht zurückhalten. Kunsang, sie hat den ganzen Tag gearbeitet. Ein wunderbares

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