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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Mädchen, und so klug! So klug, und so traurig… «
    Traurig? dachte ich, mit einiger Bestürzung. Ani Wangmo konnte keine Sekunde ruhig sein und redete überdreht vor sich hin.
    »Meine Kleine! Ach, es war wunderbar, wenn du nur wüsstest!
    Wie glücklich sie mich gemacht hat! Sei mir nicht böse, Tara, ich kann nicht mehr sitzen! Ich bin alt… Mein Rücken schmerzt zu sehr…«
    Ich fasste behutsam ihren Arm, spürte ihre Knochen unter der weichen, lockeren Haut.
    Sie stöhnte.
    »Nein, fass mich nicht an!«
    »Warte, ich kenne mich etwas aus. Sag, wie viele Ärzte hast du in deinem Leben gesehen?«
    Jetzt kicherte sie, wobei sie gleichzeitig das Gesicht verzog.
    »Einige. Aber keinen Chinesen. Die arbeiten mit Spritzen, und davor 166
    habe ich Angst.«
    »Ich werde dir sagen, wo du Schmerzen hast.«
    Sie wirkte überrascht.
    »Willst du es nicht von mir wissen?«
    »Das finde ich lieber selbst heraus. Atme ruhig. Denke an gar nichts… «
    Ich drückte ihren obersten Halswirbel. »Tut es weh?«
    »Ja, manchmal.«
    »Und da?«
    Sie nickte nur. Ich tastete mich hinab zu den Ellbogen, den Handgelenken, den Fingern. Sie nickte mir schmerzvoll zu.
    »Morgens spüre ich kaum noch meine Finger.«
    Als ich mit meinem Daumen in Höhe der Lendenwirbel drückte, zuckte sie heftig zusammen.
    »Da ist es am schlimmsten!«
    »Ja, ich weiß. Du hast Arthrose.«
    »Was ist das?«
    »Eine Krankheit, die mit der Zeit kommt und nicht besser wird, tut mir Leid. Die Gelenke sind abgenutzt.«
    »Kannst du etwas für mich tun?«
    »Wenig. Aber ich werde dir Mittel hier lassen, die dir den Schmerz nehmen. Und ich werde dir ein Rezept da lassen. Suchst du einen tibetischen Arzt auf, wird er die richtige Medizin für dich herstellen.«
    »Sie kann nicht mehr mit dem Bus fahren«, sagte Sonam kummervoll. »Die Schmerzen sind zu stark. Aber ich werde jemand bitten, es für sie zu tun.«
    »Danke«, sagte Ani Wangmo zu mir. »Du hast eine gute Hand.«
    »Ich bin Ärztin. Schon lange.«
    »Kunsang hat es mir gesagt, ich hatte es nur vergessen. Sie hat dich sehr gerne, weißt du…«
    Ich fuhr leicht zusammen.
    »Wirklich?«
    »Ja. Deswegen ist es ihr auch so schwergefallen zu gehen. Die Dinge des Lebens sind sehr schwierig für sie, musst du wissen. Weil sie spürt, dass auch andere darunter leiden.«
    In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.
    »Sie ist ziemlich unberechenbar, Ani Wangmo.«
    »Sie kann nicht anders, das ist das Schlimme. Wenn sie wählen könnte…«
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    »Ist das ein Grund, uns monatelang ohne Nachricht zu lassen?«, sagte ich bitter. »Wir haben uns große Sorgen gemacht.«
    Sie drückte sanft meine Hand.
    »Du musst verstehen, Tara – so wie sie ist, das findet nie ein Ende, nie. Sie fühlt so tief, sie sieht das alles so deutlich…«
    Ihre Worte erschreckten mich.
    »Was willst du damit sagen, Ani Wangmo?«
    Sie schüttelte müde den Kopf.
    »Meine Kleine… Sie beobachtete alles, schon damals. Du musst nicht glauben, dass sie nichts sah…
    Sie wusste, warum ihre Mutter jeden Abend schöne Kleider und bestickte Pantoffeln trug. Warum sie ihre Lippen rot anmalte und ihr Haar mit bunten Spangen schmückte. Oh ja, sie wusste ganz genau Bescheid. Und jetzt ist es, als lebten verschiedene Personen in ihr; und jede Person hat eine andere Stimme. Das macht einen Riesentumult in ihrem Schädel. Und manchmal hört sie nur diese Stimmen und nicht das, was wir sagen… «
    »Ich bin bekommen, um sie zurückzuholen.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein. Sie wird dir nicht folgen. Sie ist da, wo sie sein will.«
    »Ani Wangmo, ich habe einen Brief von ihr. Sie schreibt, dass sie sich einer wandernden Theatergruppe angeschlossen hat, die von einer Frau geleitet wird.«
    »So ist es. Die Frau tritt als Ksitipati, als ›Herrin der Leichenäcker‹, auf. Früher durfte nur ein Mann die Rolle verkörpern.
    Heute gibt es keine Männer mehr, die diese Rolle spielen können, wie es sein muss. Yuthok hat ihren Vater, ihren Großvater tanzen sehen; sie kennt jeden Schritt. Sie bildet jetzt Kunsang aus. Aber Kunsang ist nicht immer vorsichtig…«
    Ein Frösteln überlief mich.
    »Wie meinst du das?«
    »Sie ruft die Erde zum Aufstand auf… Kämpft und schreit die Erde, so kämpfen auch die Menschen. Kunsang hat viele Stimmen in der Kehle.«
    »Und wo ist sie jetzt?«
    Sie bewegte schlapp die Hand. »Das weiß ich nicht… Die Schauspieler kommen und gehen. Jeder empfindet Furcht, wenn die Toten tanzen. Aber bald scheint der

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