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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Erntemond. Die Zeit der Schauspieler beginnt. Die Knochen der Toten segnen die fruchtbare Erde… «
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    »Ich muss sie finden, Ani Wangmo. Bitte, sag mir, wo sie sein könnte!«
    »Du musst die Leute fragen. Viele werden sich an sie erinnern.
    Ein Gesang bringt die Menschen irgendwie zusammen. Eine eigenartige Gemeinschaft entsteht. Ein Gesang ist angefüllt mit tausend Erinnerungen, darin liegt sein Geheimnis. Ich kann nicht sagen, woher das kommt. Es ist einfach so.«
    Eine plötzliche Eingebung ließ mich erstarren.
    »Atan… Wäre es möglich, dass er weiß, wo sie ist?«
    In den dunstigen Augen blitzte ein Funke auf.
    »Ja, ja, der Reiter! Ich entsinne mich gut. Der Reiter kennt viele Wendepunkte, viele Wege. Er kennt sie alle, so weit das Auge sieht und das Ohr hört. Ohne Zweifel weiß er viele Dinge. Denn andernfalls wäre er längst zu Tode gekommen, das jedenfalls ist ganz sicher… «
    »Wie komme ich zu ihm?«
    »Es wird nicht einfach sein. Er ist oft unterwegs. Nach Kham verkehren täglich Busse. Du kannst Lithang mit dem Bus erreichen.
    Dort musst du weiterfragen. Er nennt einige hundert Yak sein eigen.
    Ich hörte, dass er im Sommer bei den Hirten lebt. Er ist ganz an die Berge gewöhnt, möchte ich meinen… «
    Ich sagte lächelnd und mit einer gewissen Erleichterung:
    »Dann ist er Nomade geblieben… «
    »Was könnte er anders sein als Nomade?«, erwiderte sie schlicht.
    Ich streichelte ihre Hand.
    »Und Kunsang?«
    »Kunsang – das ist etwas anderes. Sie singt und lässt ihren Gesang ihren eigenen Weg finden. Sie geht mit ihrem Schicksal, und vielleicht darüber hinaus. Das ist etwas, das wir zulassen müssen«, sagte Ani Wangmo, traurig und mit großer Zärtlichkeit. »Auch wenn wir es nie verstehen werden…«
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19. Kapitel

    A m nächsten Morgen verließ ich Lhasa mit dem Bus in östlicher Richtung. Es war noch dämmrig, aber schon schritten Pilger den Linkhor ab, drehten Gebetsmühlen, verbrannten Wacholderzweige, warfen sich in den Staub. Ganze Familien lagerten unter freiem Himmel. Die Kinder tollten herum, während Frauen Buttertee in langen, hölzernen Gefäßen zubereiteten. Überall brannten kleine Feuer. Gebetsfahnen wehten an Stäben, die die Pilger zwischen Steine geklemmt hatten. Der Morgen war ausgesprochen kalt, aber sobald die Sonne aufging, wurde es schnell warm. Bald begann die Straße in großen Schleifen anzusteigen; die stickige Wolke Abgase, die der Bus hinterließ, hüllte die Menschen am Straßenrand ein.
    Hinter den üblichen Steinmauern klebten Bauernhäuser am Hang.
    Eine Wiese schimmerte smaragdgrün, weiße Schafe weideten unter Obstbäumen – eine seltsame, fast kitschig-schöne Pastorale.
    Die Fahrt würde drei Tage dauern; wie stets war der Bus überfüllt. Im engen Gang mussten die Reisenden über Kisten, Taschen, verschnürte Koffer und Körbe voller Esswaren steigen.
    Rasch schlossen sie Bekanntschaft, so dass die Fahrt nie langweilig wurde. Insbesondere die älteren Frauen zeigten sich voller Neugierde und unbefangener Schwatzhaftigkeit. Sie trugen ihre Habseligkeiten nach altem Brauch in Tücher eingewickelt und fest um Taille oder Rücken geschlungen. Ich mochte ihr herzliches Lachen, ihre guten, derben Gesichter, ihre alten Augen, die viel Leid gesehen hatten und doch noch so verschmitzt blinzeln konnten. Sie rochen nach Holzkohle, abgetragenen Kleidern; sie erzählten ungeniert alles von sich und erwarteten von mir das gleiche. Ein Mönch, der ein Buch mit losen Blättern, in eine weiße Stoffschärpe eingewickelt, um den Hals trug, murmelte Gebete. Viele rauchten; die Luft war stickig.
    Allmählich veränderte sich die Landschaft; das grüne Weideland ging in Felshänge und Sanddünen über; der untere Teil der Felshänge war mit Kalk geweißt, darauf waren mit roter Farbe gigantische chinesische Buchstaben gemalt. »Liebet euer Vaterland«
    oder »Strebt vorwärts«, stand dort zu lesen.
    Eine junge Chinesin war zugestiegen – eine Touristin wie ich, mit einem Rucksack. Der Zufall wollte es, dass sie neben mir, auf der anderen Gangseite, einen freien Platz fand. Irgendwann begegneten sich unsere Blicke, als ich halblaut die chinesischen 170
    Sprüche murmelte, und sie deutete ein Lächeln an, das ich erwiderte.
    Daraufhin konnte ich mir die Bemerkung nicht verkneifen, wer denn wohl – außer die Chinesen selbst – diese Propagandasprüche lesen konnte? Sie antwortete amüsiert, nicht im geringsten verlegen.
    »Ja, das ist wahr. Aber unser

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