Die Tochter der Tibeterin
soziales Gewissen ist stark. Wir wollen, dass der Fortschritt sich durchsetzt. Sehr augenfällig, wenn es sein muss.«
Die Worte klangen spöttisch. Immerhin zögerte ich, in ihr Lachen einzustimmen, unschlüssig, ob ich ihr trauen konnte oder nicht. Ihr Name war Zhao Nan; sie war sehr schlank, mit einem weichen Gesicht. Ihre Augen waren ziemlich rund für eine Asiatin, und sie hatte einen schön geschwungenen Mund. Es war, als ob sie ständig vor sich hin lächelte. Sie wirkte ungemein zart und zugleich voller verhaltener Energie. Nach dieser Bemerkung saß ich eine Zeitlang stumm neben ihr. Gerne hätte ich ein Gespräch mit ihr angefangen, doch ich wusste nicht, wie. Sie war es, die schließlich das Schweigen brach, indem sie mir einen Zwiebelkuchen, mit Petersilie bestreut, anbot. Ich biss erfreut in den ofenfrischen, schmackhaften Kuchen.
»Oh, der ist aber gut!«
Sie nickte zufrieden. Sie sprach ein ausgezeichnetes, etwas singendes Englisch.
»Meine Tante führt ein Restaurant in Lhasa. Ich besuche sie in den Ferien. Ich wohne in Shanghai.«
Sie war Studentin im fünften Semester. Sozialwissenschaft.
Daneben spielte sie Klavier in einem Orchester. Sie liebte Brahms und Rachmaninoff und wollte im nächsten Jahr zu ihrem Bruder nach Hongkong gehen.
»Sie kommen aus dem Ausland, nicht wahr?«, fragte sie mich.
»Ja. Woher wissen Sie das?«
Sie blinzelte verschmitzt.
»Ich weiß nicht, woran es liegt. An Ihrer Art, sich zu bewegen, denke ich. Sind Sie zum ersten Mal hier?«
»In Tibet, meinen Sie? In dieser Gegend, ja. Ich besuche Verwandte. Ich bin Ärztin und lebe in der Schweiz.«
»Haben Sie nie dran gedacht, ihren Beruf hierzulande auszuüben? Wir brauchen Ärzte. Sie waren im Ausland, das ist ausgezeichnet. Die Einheimischen werden Ihnen mehr Vertrauen schenken als uns. In unseren Krankenhäusern geschieht vieles, was nicht gut ist.«
Ich war erstaunt, dass sie das sagte. Es gab in Tibet nahezu 171
sechshundert Krankenhäuser, aber es herrschte ein großer Mangel an tibetischen Fachkräften. Von gleichgültigen chinesischen Ärzten und ungeschulten Krankenschwestern wurde den tibetischen Patienten manchmal mehr Schaden zufügt als geholfen. Die Kranken wurden nur oberflächlich untersucht und nicht angemessen behandelt.
Falsche Medikamente, nicht selten willkürlich verordnet, konnten zu Invalidität oder sogar zum Tod führen.
»Dazu kommt, dass viele arm sind und nicht genügend zu essen haben«, fuhr Zhao Nan fort. »Sie trinken viel; der Schnaps ist so billig hier! Viele Tibeter bieten der Krankheit keinen Widerstand.
Auch die Zwangsabtreibungen sind eine schlimme Sache, so dass die Frauen auf ärztliche Behandlung lieber verzichten. Das war früher bei uns in China nicht anders. Und dennoch habe ich manchmal Angst.«
Sie sah mich mit ihren großen Augen eindringlich an. Ihre Offenheit verblüffte mich derart, dass ich kaum ein Wort über die Lippen brachte.
»Ich finde, dass wir über die eigentliche Art der Tibeter kaum Bescheid wissen. Wir können nie voraussehen, welche Reaktionen wir hervorrufen. Ich denke, wir sollten nicht hochnäsig oder gekränkt sein, weil die Leute hier anders sind als bei uns. Anfangs gingen mir die Tibeter auf die Nerven, aber dann habe ich entdeckt, dass ich sie mag.«
»Warum?«, entfuhr es mir.
»Warum ich sie mag? Sie sind nicht abgebrüht, sie lachen viel, und zwar über Dinge, die wir nur mäßig oder überhaupt nicht komisch finden. Daran merkt man, dass sie nett und klug sind.
Wissen Sie, ich stamme aus einer Familie von Wissenschaftlern, die sich bei der Kulturrevolution in allen Lebenslagen unterdrückt sahen.
Sie konnten mit der neuen Welt nichts anfangen. Mein Vater verbrachte elf Jahre in einem Erziehungslager; meine Mutter musste auf der Straße eine kleine Garküche unterhalten, um zu überleben.
Uns ist es nicht besser gegangen als hunderttausend anderen. Das hat mich – gegenüber vielem – kritisch gemacht. Für mich stellt unsere Politik etwas Besonderes dar, sie ist, genauer gesagt, nicht unbedingt sympathisch.«
»Was tun Sie eigentlich hier?«, fragte ich sie etwas später, als wir am Straßenrand lagerten, froh, an der frischen Luft zu sein, während der schwitzende Busfahrer einen Reifenwechsel vornahm.
»Ich reise, ich sehe mir das Land an und versuche mir eine eigene 172
Meinung zu bilden.«
»Und was haben Sie herausgefunden, Nan?«
Sie umklammerte ihre Knie mit beiden Händen, wiegte sich beim Sprechen leicht vor und
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