Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
zurück.
    »Dass mein Herz dabei nicht unbedingt höher schlägt. Von mir aus gesehen, hat die Zukunft nicht unbedingt etwas mit Hoffnung zu tun. Möglicherweise bin ich zu wenig radikal im Umgang mit den Tatsachen. Ich sollte als winzige Ameise zufrieden durch den Wald krabbeln, aber der Wald wird abgeholzt, und die Landschaft, die ich jetzt sehen kann, missfällt mir. Zwei Drittel der tibetischen Wälder sind bereits kahlgeschlagen – haben Sie das gewusst?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein, die Zahlen sind mir unbekannt.«
    »Mir nicht. Ich stelle oft Fragen und bekomme recht aufschlussreiche Antworten. Sieben große Flüsse, darunter der Gelbe Fluss, entspringen in Tibet. Jedes Jahr gibt es in China Überschwemmungen. Das war schon früher so; bloß nimmt die Zahl der Toten zu. Die Verwüstungen sind unvorstellbar, ganze Städte stehen unter Wasser. Leider will die Regierung den Zusammenhang nicht sehen. Besser gesagt: Die kleine Ameise, die ich bin, soll nicht beunruhigt werden. Sie steht ja nicht allein da – sie ist eine unter vielen. Der einen macht es vielleicht nichts aus, die andere trägt schwerer daran. Aber wie alle normalen Ameisen von gesundem Egoismus halten wir lieber den Mund. Und Katastrophen hat es schon immer gegeben.«
    Der Fahrer rief uns zu, dass wir wieder einsteigen könnten. Wir kletterten auf unsere Plätze zurück. Zhao Nan sprach weiter, leise, aber mit großem Nachdruck.
    »Die Kulturrevolution liegt hinter uns. Wir dürfen Lippenstift tragen, reich werden, mit Ausländern sprechen und schöne Filme drehen, die internationale Preise gewinnen. Wir Intellektuellen reden viel, aber sterben nicht mehr auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Von allen Lastern dürfen wir eines nicht haben: Urteilskraft. Die Partei duldet jede Gaunerei, wenn sie Geld einbringt. Doch sie duldet keine Kritik. Und gerade weil sie keine Kritik duldet, besteht die Verpflichtung, gegen sie zu rebellieren.«
    Sie sah so sanft und ruhig aus und war von einer nahezu brutalen Direktheit. Ich war sehr beeindruckt.
    »Nützt das was?«
    Sie schüttelte heftig den Kopf.
    173
    »Es braucht überhaupt nichts zu nützen; es genügt, dass ich es für richtig halte.«
    Was ich dachte, interessierte sie kaum. Sie sprach weniger zu mir als laut zu sich selbst. Sie wollte, dass ihr Leben einen Sinn hatte, und fand nicht alles um jeden Preis sinnvoll. Sie erkannte die Notwendigkeit der Ehrlichkeit. Sie hatte eingesehen, dass gewisse Sachen falsch waren, und verschloss sich diesen Tatsachen nicht. Sie nahm sich die Freiheit, die Gesellschaft, die sie zu dem gemacht hatte, was sie war, zu verspotten – und unter diesem Sarkasmus, der so notwendig war, zugleich zu leiden. Aus ihrem Blick sprachen Ironie, aber auch Lebensliebe und eine tiefe, schmerzliche Sehnsucht.
    Zhao Nan fuhr bis Bay-Yi, ihren eigenen Worten zufolge die seltsamste Stadt, die sie kannte.
    »Warum seltsam?«, fragte ich.
    »Weil sie so hässlich ist. So unchinesisch hässlich, da sie das Prinzip der Harmonie verletzt. Die Harmonie zu verletzen, gehört in die heutige Zeit, aber das ganze Problem ist eine Sache des guten Geschmacks. Wir sind unfein und unkultiviert, sonst würden wir solche Absurditäten nicht zulassen.«
    Zhao Nans Augen blickten bekümmert in eine Zukunft, die sie missbilligte.
    »In Bay-Yi sitzt mein Cousin in der Verwaltung. Besuche ich ihn nicht, ist er stocksauer und schreibt böse Briefe. Also besuche ich ihn und mache mich darauf gefasst, drei Tage lang schlecht zu essen.
    Es gibt hier jede Menge teure Restaurants, aber kein einziges gutes.«
    Bay-Yi, dessen chinesischer Name »Erster August« bedeutete –
    der Tag, an dem die Volksbefreiungsarmee gegründet worden war –, sollte demnächst Tibets neue Hauptstadt werden.
    »Kritisieren Sie nicht zuviel, Nan«, warnte ich sie. »Sonst wird man Sie umerziehen wollen.«
    Sie lächelte – ein wirklich schönes, warmherziges Lächeln.
    »Ich werde mich mit dem Gedanken vertraut machen. Und vielleicht lerne ich ja etwas dabei.«
    Der Bus hielt in der Stadtmitte. Die Leute, die hier ausstiegen, schoben und stießen ihr Gepäck durch den Gang. Draußen kletterten einige Männer auf das Dach des Busses und begannen, ihre Koffer und Warenballen dort zu befestigen. Frauen standen neben dem Wagen, gestikulierten, riefen ihnen Anweisungen zu. Als ich Zhao Nan den Rucksack aus dem Fenster reichte, rief ich ihr zu: 174
    »Glauben Sie, dass wir uns wieder sehen werden?«
    Sie stand an der

Weitere Kostenlose Bücher