Die Tochter der Tibeterin
finden solche Gruppen in Lithang«, sagte Jampel. »Und wenn Sie in Lithang keine antreffen, fragen Sie den Abt, Sherab Rimpoche. Der ehrwürdige Lama kennt jedes Fest weit und breit. Er weiß alles, was geschehen muss und wie es geschehen wird, auf die richtige Weise. Ja, Sie sollten den Abt aufsuchen. Er wird Ihnen weiterhelfen, da bin ich ganz sicher«, setzte Jampel mit Nachdruck hinzu.
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20. Kapitel
W as hatte ich erwartet, als ich nach Lithang kam? Ich glaube, ich erwartete einen Ort, in dem ich im Traum schon so oft gewesen war. Ich wollte die Klosterburg sehen, die wuchtigen Häuser mit ihren Flachdächern, auf denen im Sommer das Korn lagerte, die Kürbisse glühten, das Brennholz auf großen Gestellen trocknete. Ich wollte die Talismane über dem Eingang sehen: den Dreizack, der den Blitz abwehrte, oder ein Gehörn als Zeichen der Macht, die in den Stein gravierten Symbole; den Donnerkeil, das schwarz-gelbe Zeichen von Sonne und Mond, oder die uralte Swastika, Darstellung der vier Himmelsrichtungen und der ewigen Erneuerung. Die Häuser in Kham hatten stets etwas Wuchtiges, Theatralisches an sich gehabt; sie schützten die Bewohner vor den Zugriffen der Elemente, sie spendeten Wärme im Winter und Schatten im Sommer. Sie waren eins mit der Erde, mit dem Himmel, mit der Natur. Heute schimmerten Glasfenster in harter, neonlichtiger Kühle. Der Verkehr verstopfte die Straßen; überall herrschte das gleiche Chaos, das gleiche Hupen, die Rauchfahnen, die Gerüche nach chinesischer Küche. Ein Lastwagen, mit Schlachtvieh beladen, rumpelte vorbei.
Die Tiere, nackt und blutig, hingen an eisernen Haken, und rote Tropfen fielen auf den Asphalt. In Lithang sah es aus, als hätten die Straßenkehrer seit Monaten gestreikt, aber nein, in China wurde Streik nicht geduldet! Das Lithang, das ich zu kennen glaubte, gab es nicht mehr, war eine Dichtung außerhalb der Wirklichkeit; Lithang hatte ich mit meinen inneren Augen betrachtet, in den Farben der Phantasie. Es war eine Welt, die abseits lag, nur in der Erinnerung wiedererweckt, ins Nichts führend. Lithang war eine chinesische Stadt, mit Plattenbauten, tief hängenden Stromleitungen und Verkehrslichtern an jeder Straßenkreuzung. Die Menschen trugen bunte Kleider aus Polyester, Militärjacken aus Nylon, schlechte Gummistiefel, protzige Uhren. Einheitsprodukte, das Billigste aus China.
Die Bewohner Lithangs waren Könige gewesen, in Edelpelze und Brokat gekleidet. Sie rieben sich duftende Öle in die Haare, bis sie lackschwarz glänzten, umwanden ihre Locken mit rotem Garn. Sie trugen kostbare Amulette und faustgroße Türkise. Sie waren Helden gewesen, gefürchtet, besungen und unsterblich. Aber das Gesetz des Krieges fordert Sieger und Besiegte. Lithang war verschwunden wie 183
ein Kranich, den der Wind auf seiner Strömung in ein anderes Zeitalter trägt. Du bist fort, Lithang, ich suche dein Bild und finde eine chinesische Stadt. Ja, sicher, die Alten erinnerten sich; ihre hochmütigen Habichtprofile schimmerten dunkel wie Holz unter dem bleichen Neonlicht; die Frauen waren stolz auf ihre makellose Schönheit, bevor Sonne und eisiges Licht ihre Haut wie Leder gerbten. Doch wo blieb ihre angeborene, ursprüngliche, ungebändigte Kraft? Ihre Kraft war dahin, und sie hielten ihre Gedanken verborgen; Spitzel mochten überall sein. Die Jungen hatten die abgedroschenen Phrasen der Parteipropaganda gelernt. Die Belagerung Lithangs war eine schlimme Sache gewesen, aber eine Sache, die vorbei war. Die Jungen spielten Billard, saßen in Spelunken, füllten ihre Lungen mit Rauch. Wetten wurden abgeschlossen, Schnapsflaschen herumgereicht. In Tibet war Alkohol billiger als Tee, dafür sorgte die Regierung in Beijin. Sie, die Jungen, wollten die neuesten Turnschuhe haben, schön im Trend und richtig edel. Und ausgerechnet diese chinesische Stadt war es, die mir unwirklich vorkam. Lithang war überall. Lithang konnte nicht übersehen werden. Und ich klammerte mich an dieses Bild, an diese Geschichte, die mir einst erzählt wurde. Es war Atans Geschichte, und es spielte keine Rolle, wie oft sie in der Vergangenheit bereits erzählt worden war: Die Erinnerung musste fortbestehen, sich ewig erneuern.
Ich verzehrte eine chinesische Mahlzeit: Fleisch, gehackt in rotem Pfeffer und in süßer Sauce gekocht. Nicht übel. Der Pfeffer brannte auf der Zunge, zum Schluss der Mahlzeit trank ich mit Behagen die Suppe. Ein bisschen fett, das Ganze, aber wirklich sehr schmackhaft. Ich
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