Die Tochter der Tibeterin
blickten umher, als suchten sie etwas, das sie nicht finden konnten. Einige verharrten still, ihre Lippen bewegten sich, andere warfen sich nieder. Das Heiligtum erschien mir plötzlich wie ein Ort jenseits von Raum und Zeit, an einem Augenblick, der ewig wiederkehrte. Ich blinzelte verwirrt. Was sah ich? Das Bleibende in meiner Erinnerung? Die Vergangenheit? Oder mischte sich alles, der Augenblick, der Ort und seine Geschichte? Ich hörte ein Schluchzen in dem helldunklen Raum. Ein kleines Mädchen hatte zu weinen begonnen, auf eine so verzweifelte Art, dass auch mir die Tränen kamen. Doch die Mutter tröstete das Kind mit leisen, eindringlichen Worten, und Stille kehrte ein.
Ich verließ das Heiligtum. Durch ein großes hölzernes Tor trat ich in einen zweiten Hof. Zwei junge Mönche in scharlachfarbenen Roben harkten ein kleines Gemüsebeet. Ich musterte ihre starken Rücken, ihre gegerbte Haut, der die Kälte nichts auszumachen schien. Gebetsfahnen flatterten hinter ihnen auf der Mauer. Auf dieser Bergseite hatte sich die Stadt nicht ausdehnen können. Kein Straßenstück führte empor; der felsige Hang fiel halsbrecherisch steil ab in einen gefährlich tiefen Talkessel. Auf einem Wiesenstück grasten zwei Yaks. Ein kleiner gusseiserner Halbmond, an den Klöppel eines Windglöckchens gebunden, ließ dieses klingeln. Im 186
neu aufgebauten Tempel waren die Mönche bei der Andacht. Ihr Gesang begann in absteigendem Tonfall und verströmte seinen Rhythmus bis zur völligen Stille, dann begann er wieder und wieder, stets mit der gleichen intensiven Kraft. Der Gesang erzeugte ein mächtiges Brummen, das ich im Boden unter meinen Füßen spürte.
Der Brummton war mir vertraut, er schien immerfort aus sich selbst heraus zu wachsen, er dehnte sich aus, als müsse er an Kraft gewinnen, um das Hupen und Brausen des Verkehrs am Fuß der Mauer zu übertönen. Zwei Hängetrommeln folgten und verstärkten den Rhythmus. Vor dem Portal häuften sich Schuhe und Sandalen auf den Stufen. Neben dem Eingang kauerten ein paar junge Novizen. Als ich zu ihnen trat, erhoben sie sich, falteten die Hände zum Gruß. Aus ihren Gesichtern sprach Höflichkeit und Scheu. Ich erklärte, dass ich den Abt Sherab Rimpoche zu sehen wünschte, und bat um ein vertrauliches Gespräch.
»Ich komme aus der Schweiz«, setzte ich hinzu, um mir ein bisschen mehr Wichtigkeit zu geben – eine Wichtigkeit, die ich nicht hatte. Die Novizen tauschten Blicke, wirkten verstört. Schließlich meinte der Ältere von ihnen, er würde es dem ehrwürdigen Lama mitteilen, und schlurfte mit flatternder Robe davon. Ich stand in der Sonne und wartete. Die Trommel war plötzlich verstummt; das endlose Nachklingen des allerletzten Schlages summte in der Stille, und die Mönche schlugen kleine Zimbeln. Nach einer Weile war der Novize wieder da; er schlug die Augen nieder und sagte, der Heilige Lama sei noch beschäftigt, aber ich könnte in seinem Gemach auf ihn warten. Er bat mich, ihm zu folgen, und ging voraus.
Sein geschorener Hinterkopf war schmal, der Nacken kindlich zart. Er mochte kaum dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Ich kletterte hinter ihm eine Anzahl hölzerner Stufen empor, umging einen Felsen, auf dem mit blauer Farbe ein Buddha gemalt war. Ein Holztor kam in Sicht, mit Riegel und Stangen versehen. Eine weitere Treppe, diesmal aus Stein, brachte uns in einen Innenhof. Von einem Stockwerk zum anderen führten Holzleitern, auf denen die Mönche geschickt hinauf und hinunter kletterten. Ich sah die Mauern, die dürftig instand gesetzt waren, die liebevoll restaurierten Fresken, die leeren Stellen, wo einst edelsteinglitzernde Statuen funkelten; ich sah die Schichten von Zeiten und Leben, von Erneuerung und Zerfall.
Und die Frage, die mich beschäftigte, war jetzt eine andere: Wieviel Hoffnungslosigkeit konnte Tibet noch ertragen, welche Zeitepoche würde der Henker sein, der sein klagloses Sterben vollzog? War 187
Tibet nicht in erster Linie ein Anspruch, den die Menschheit an sich selbst stellte, eine Erfahrung des Geistes, so ernst und aufrichtig und vollständig, dass sie weiterbestehen musste, weil kein Mensch es ertragen konnte, zu wissen: »Du bist allein, hier ist nichts mehr. Was dich umgibt, ist Finsternis«?
Das zumindest wollte ich glauben.
Inzwischen kamen wir durch verwinkelte Gänge und düstere Kammern. Auch hier zeigte sich nichts als Armut und Zerfall. Risse klafften an den Wänden, wunderschöne Wandgemälde bröckelten ab,
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