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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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verblassten. Es roch nach Moder und Fäulnis. Der Novize brachte mich in einen kleinen, karg eingerichteten Raum. Ein Balken, in den Boden eingelassen, kennzeichnete die Schwelle. Ruß hatte die Wände mit einer klebrigen Schicht überzogen. Der Novize bot mir als Sitzplatz ein verblichenes Kissen an, verbeugte sich und ging hinaus. Ich sah mich im Raum um. Mir fielen die vielen Schriften auf, die sich auf grob gezimmerten Regalen stapelten.
    Einige dieser Schriften hatten noch Deckel aus Birkenrinde: echte Raritäten, die man im heutigen Tibet kaum noch fand. Über einer Altarwand mit zahlreichen Messingschalen und kleinen Statuen hingen zwei Rollbilder aus zerschlissenem Brokat. Das eine stellte Vajrasattwa dar, den mystischen Buddha, eine wesentliche Gestalt im Ritual des Totenbuches. Das andere war ein wunderschönes Exemplar der Karmadga’bris-Tradition, der berühmtesten Malschule Khams. Sie zeigte einen hohen Lama der Karmapa-Sekte mit seiner typischen schwarzen Kopfbedeckung. Der Überlieferung nach wurde diese Kopfbedeckung, mit kostbaren Edelsteinen geschmückt, aus dem Haar einer Dakini-Fee gewebt. Trotz seines schlechten Zustandes musste das Bild von unschätzbarem Wert sein. Und es war nicht nur die Vollkommenheit der Darstellung, sondern auch die Grazie der Vision, die im Helldunkel der zerstörten Mauern überlebte.
    Ein kleines Fenster, hellblau umrahmt, bot einen weiten Ausblick über den Berghang, der auf dieser Seite steil in die Tiefe fiel. Die Stadt mit ihrem Netzwerk aus Häusern, ihren Fabriken, ihren qualmenden Schornsteinen schimmerte fast durchscheinend im dunstigen Morgenlicht; sie war zu weit weg. Hier beugten sich die Menschen nicht unter der Last ihrer Mythen und Erinnerungen; sie suchten ihre Nähe, wie ein Kind die Wärme seiner Mutter sucht, um die Gegenwart zu vergessen und die Zukunft zu ertragen.
    Da vernahm ich ein Geflüster, ein tapsendes Geräusch. Eine 188
    Stimme sprach, müde, etwas keuchend, und der Novize führte einen Mann herein. Er ging auf zwei Stöcken gestützt, mit verdrehten Füßen. Auch sein Rücken war krumm. Arthritis, nahm ich auf den ersten Blick an. Als das Licht aus dem Fenster auf ihn fiel, musterte ich überrascht sein noch jugendliches Gesicht, in dem die Augen schwarz und scharf leuchteten. Ich erhob mich, verneigte mich dreimal, wie es die Sitte erforderte, mit gefalteten Händen, und empfing seinen Segen. Er zog die Stirn kraus, während er sich unbeholfen auf vergilbte Schafsfelle setzte. Ich betrachtete seine Narben, die unter der Mönchsrobe sichtbar wurden, die unförmigen Gelenke, die verdrehten Kniescheiben. Nein, keine Arthritis, wie ich zuerst geglaubt hatte, sondern Knochenbrüche, die niemals gepflegt worden waren. Mein Herz zog sich schmerzvoll zusammen. Der Novize schob dem Mann ein Kissen hinter den Rücken, nahm ihm voller Fürsorge beide Stöcke aus der Hand. Sherab Rimpoche gab ihm ein Zeichen. Der Novize reichte uns Becher, füllte sie mit heißem Buttertee, den er aus einer Thermoskanne goss. Ich bewunderte die zugleich sanfte und edle Gebärde, mit der er sich über die Kanne beugte. Und ich dachte, bloß weil der Tee für den Lama und seinen Gast bestimmt war, hielt der Junge diese Thermoskanne aus Plastik, als sei sie aus kostbarem Silber oder feinstem Steingut.
    Der Heilige Lama betrachtete mich; seine Augen waren von einem vergoldeten Schwarz, mit großen Pupillen. Sie schimmerten klar, wie die Augen eines Falken. Sein Gesicht schien in zwei Hälften geteilt, die eine müde und abwesend, die andere spöttisch und wach. Ohne es zu wollen, übte er auf mich eine Art wohltuenden Zauber aus.
    »Sie kommen aus der Schweiz?«, brach er schließlich das Schweigen.
    In der ernsten Stille dieser Kammer klang seine tiefe Stimme etwas spöttisch und stärker und jugendlicher, als sein Körper vermuten ließ.
    Ich lächelte.
    »Ursprünglich stammt meine Familie aus Lhasa, aber wir leben in der Schweiz, seit mehr als dreißig Jahren.«
    Er nickte.
    »Seine Heiligkeit besucht manchmal die Schweiz.«
    »Ja, ich hatte die Ehre, ihn im Kongresshaus in Zürich zu sehen.
    Tausende von Tibetern waren aus ganz Europa gekommen, um seine 189
    Worte zu hören. Es war ein großes Erlebnis für alle.«
    Er nickte mit einem wehmütigen Lächeln.
    »Sie sind ihm begegnet. Ich selbst hatte nicht dieses Glück. Mein Gesundheitszustand lässt es nicht zu, längere Reisen zu unternehmen.«
    Ich nickte. Der Rimpoche setzte sich bequem zurück und nahm einen

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