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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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verbrachte die Nacht in einer chinesischen Herberge; ich schlief traumlos und gut. Als ich erwachte, wusste ich, was ich zu tun hatte, und machte mich gleich frühmorgens auf den Weg.
    Von Lithangs alter Klosterburg standen nur noch Mauerreste, aber ein Teil war bereits neu aufgebaut worden und sah höchst imposant aus. In China galt zwar nach wie vor der Gedanke, dass bei fortschreitender Weiterentwicklung der Gesellschaft jede Religion über kurz oder lang aussterben musste; man versuchte jedoch auf diese Weise sich das Vertrauen der tibetischen Bevölkerung zu erkaufen. Und nicht nur das – der wesentliche Grund für den eifrigen Wiederaufbau war der Tourismus. Die Chinesen waren geschickte Drahtzieher – und die Mönche waren die Puppen, die sie spielen 184
    ließen. Die Touristen sollten sehen, was sie sehen wollten: Religion und Exotik, in farbenfroher Bühnenausstattung und mit jeder Menge Statisten, die murmelnd Gebete sprachen. Propaganda, Augenwischerei. Aber nicht alle Touristen ließen sich täuschen. Und nicht alle Mönche waren gewillt, Andacht zu mimen und sich filmen zu lassen.
    Ich ging die Straße hinauf, die, mit weißen Mani- Steinen gesäumt, zum Hauptgebäude führte. Die Steine begrenzten den heiligen Bezirk, den die bösen Geister nicht betreten durften. Aber die Straße war gut ausgebaut und durchaus für Militärfahrzeuge tauglich. Den ersten Absatz der Klosterfestung bildete eine frisch getünchte Mauer. Ältere Steinblöcke, verwittert und grau, schienen mit der rückwärtigen Felswand verwachsen. Das Kloster stand auf einer Felsnase, hoch über der eigentlichen Stadt. Der Blick fiel auf die breite Ringstraße, tief unten, mit ihrem knatternden Verkehr, ihren Warteschlangen vor den Ampeln. Reste von Säulen und Pfeilern gaben einen Begriff von der ehemaligen Größe der Anlage.
    An den Wänden waren noch verblichene Ornamente sichtbar, rot, orange und türkisblau. Ein stark beschädigtes Heiligtum bestand aus einem Kubus als mächtigem Unterbau und einer ursprünglich vergoldeten Kuppel, über die sich ein spitz zulaufender Aufsatz mit einer Mondsichel und einer Sonnenscheibe erhob. Die Lehmfresken an den vier Seiten des Unterbaus waren zerbröckelt, aber ich erkannte noch die Umrisse des mythischen Garuda-Vogels, eines vorbuddhistischen Symbols. In den kleinen Kammern der Stupas standen zwei Reihen Gebetsmühlen neuerer Art, fünf an jeder Seite, so dass die Besucher gleichzeitig zehn Rotationen der heiligen Anrufung Om Mani Padme Hum in Gang bringen konnten. Trotz der frühen Stunde herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Pilgern: Frauen und Männer in schmierigen Fellmänteln, Mütter mit Babys auf den Rücken, alte Menschen in Lumpen und abgenutzten Filzstiefeln. Viele, die offenbar von weit her gekommen waren. Die meisten drehten ihre kleinen Gebetsmühlen, andere ließen die Holzperlen ihrer Gebetsschnüre durch die Finger gleiten. Am Wegrand hatten Händler ihre Matten ausgebreitet, kochten Tee auf kleinen Öfen, verkauften gesalzenes Yakfleisch, die üblichen getrockneten Käsewürfel, grellbunte chinesische Süßwaren und billiges Kunsthandwerk. Auch ich nahm meinen Platz in der Schlange der Pilger ein, berührte pflichtbewusst die großen Gebetsmühlen, kupfern und übermannshoch, deren Rotieren das 185
    Universum in Gang hielt. Ich vernahm das vertraute Knirschen der sich drehenden Walzen, ein fernes, liebevolles Geräusch aus der Kindheit.
    Eine Anhäufung schwerer Steine im Hof gab eine Vorstellung von dem Ausmaß der Zerstörungen, als die chinesische Luftwaffe die Klosterburg unter Beschuss genommen hatte. Hier, genau an dieser Stelle, war die Erde zerborsten, hatte sie sich krachend emporgewölbt, die klare Winterluft mit Blut besudelt. Zwischen den freigelegten Mauern hatte einst der Matreya, der Buddha der Zukunft
    – die einzige Statue, die sich noch auf ihrem Sockel hielt –, alle Hitze aufgesaugt. Das Standbild hatte noch tagelang geglüht, wie Eisen auf dem Schmiedeamboss, ohne seine Form zu verändern. Die Sterbenden und Verwundeten hatten damals zu ihr emporgeschaut; sein Anblick war eine Wohltat gewesen, eine Gnade, ein Versprechen der Wiedergeburt. Damals war der riesige Sockel vergoldet gewesen; jetzt war nur noch der nackte, zersprungene Stein sichtbar. Doch vor dem Sockel brannten Butterlampen; im Helldunkel schienen sie in der Luft zu hängen; sie flackerten unruhig oder brannten still und stetig. Pilger kamen auf lautlosen Filzstiefeln näher,

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