Die Tochter der Tibeterin
sahen in ihren ausgebleichten Windjacken ärmlich aus. Wie die Bewohner zweier verschiedener Planeten, einander fremd und unbekannt, lebten Tibeter und Chinesen Seite an Seite, wichen jeder Berührung mit geübter, schlafwandlerischer Sicherheit aus. Jeder bewegte sich in seiner eigenen Welt – keine politische Erziehung würde den Graben überbrücken, kein Schulbesuch, kein Kinderspiel und kein Lied; das war so und würde auch immer so bleiben. An der Busstation wurde mir gesagt, dass der Bus nach Lithang nur alle fünf Tage fuhr. Ich hätte den nehmen sollen, der am Tag zuvor abgefahren war. Ich sollte einen Wagen suchen, der mich – gegen entsprechendes Entgelt natürlich – mitnahm. Man wies mir den Weg zu einer Lastwagenzentrale außerhalb der Stadt. Ich schleppte meinen Rucksack, schluckte Staub und Abgase, hustete und würgte. Endlich erreichte ich die Zentrale, wankte an einer Reihe altmodischer Lkws entlang. Die meisten wagen waren schon am frühen Morgen abgefahren, aber ich hatte Glück: Ein Fahrer hatte ein Problem mit dem Getriebe. Er hatte zwei Tage auf das Ersatzteil warten müssen.
178
Jetzt lag der Mann auf dem Rücken unter der Ladefläche, drehte und schraubte. Ich setzte mich auf meinen Rucksack und wartete. Der Fahrer stöhnte und knurrte vor sich hin; er war Tibeter, aber von seinem Dialekt verstand ich kaum ein Wort; er hätte genauso gut Chinesisch sprechen können. Endlich krabbelte er schwerfällig unter dem Wagen hervor und nickte mir grüßend zu. Dass ich mitfahren wollte, überraschte ihn nicht. Er zog mit schmierigen Fingern eine Zigarette aus der Brusttasche, knipste ein Feuerzeug an. Das dicke, safranbraune Gesicht blickte mich neugierig an. Jampel – so hieß der Mann – kam mir verschlagen, aber durchaus friedfertig vor. Er wollte zuerst meine Papiere sehen, wollte wissen, ob die Stempel in Ordnung waren. Jeder Polizeiposten unterwegs konnte prüfen, ob der Reisende legal unterwegs war. Kein Fahrer wollte Scherereien. Doch als ich ihm meine Papiere zeigte, merkte ich, dass er kaum lesen konnte. Ich erzählte ihm, dass ich Verwandte besuchte. Natürlich wollte er Geld; wir verhandelten und wurden uns einig. Die Scheine schob er in die Hosentasche, ohne nachzuzählen.
»Wann fahren Sie?«, fragte ich.
Er grinste, fuhr sich mit den schmierigen Händen die Hosennähte entlang. Er gab sich große Mühe so zu sprechen, dass ich ihn verstand.
»Jetzt sofort! Steigen Sie ein!«
Ich kletterte glücklich in die Fahrerkabine. Jampel wischte mit der Handfläche den Schmutz von der Scheibe, setzte den Motor in Gang. Wir verließen die Stadt, stiegen in der grellen Mittagssonne bergwärts. Der Zwanzig-Tonnen-Lastwagen schaukelte und rumpelte in halsbrecherischem Tempo. Jampel hatte es eilig; ich klammerte mich fest. Es hörte sich an, als fuhr der Wagen im falschen Gang.
Manchmal wurde die Straße so schmal, dass der Wagen ihre ganze Breite einnahm und die Räder den ausgebröckelten Rand streiften.
Im Geist sah ich den Wagen schon über den Straßenrand rutschen, sich überschlagend in den Abgrund stürzen und zerschellen. Aber Jampel pfiff ganz vergnügt vor sich hin. Die Blechteile abgestürzter Fahrzeuge, die in den Schluchten verrosteten, schienen auf ihn nicht den geringsten Eindruck zu machen.
Später, als die Sonne mit aller Macht blendete, hielt Jampel an.
Wir saßen am Wegrand; die Steinblöcke waren sengend heiß. Jampel bot mir Brot und ein Stück undefinierbares schwärzliches Fleisch an.
»Was ist das?«, fragte ich.
Er nickte mir fröhlich kauend zu.
179
»Yakfleisch. Ganz frisch.«
»Schmeckt gut«, stellte ich überrascht fest.
Wir teilten uns eine Flasche Bier. Das Bier war stark, aber löschte angenehm den Durst. Jampel reinigte sich die Zähne mit einem kleinen Taschenmesser, rülpste ein paar Mal. Alles war still; nur der Wind sang in der Schlucht, wie in einer steinernen Flöte.
Jampel trat gegen die Wagenwände. Das Trittbrett saß bedenklich locker. Jampel versetzte ihm einen Stoß, dass es sich löste, und befestigte es neu mit einer Stahlkammer. Dann machte er mir zufrieden ein V-Zeichen. Ich musste lachen. Wir fuhren los. In größerer Höhe spannten die Berge ihre schorfige und rissige Haut, doch im Tal leuchteten Weidenbäume wie Goldfiligran. Jampel steckte sich eine Zigarette nach der anderen an, warf die Kippen aus dem Fenster. Die Straße riss eine große, helle Spalte in den Hang, und unter dem gigantischen Berg schien der Wagen so winzig
Weitere Kostenlose Bücher