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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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in der nächsten Ortschaft zum Markt. Sie trugen ovale, mit Waren gefüllte Körbe auf dem Rücken, die durch ein Stirnband gehalten wurden.
    Viele Menschen kannten einander, grüßten und umarmten sich; die Tibeter sind ein Volk, das gerne Gefühle zeigt. Dunkle Quellwolken trieben am Himmel; es war bitter kalt. Als der Bus endlich kam, war ich so erschöpft, so durchgefroren, dass ich sofort einschlief und das Rattern und Rumpeln wie im Traum vernahm.
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    Das Merkwürdige war, dass ich trotz aller Widrigkeiten die Reise genoss. Es war eine Reise ins Ungewisse, und ich liebte solche Dinge. Unzweifelhaft hatte ich das Gefühl, dass ich mich auch innerlich vorwärtsbewegte. Dabei war ich mir selbst im Weg, wusste nicht, wo ich ankommen würde. War meine Suche nach Kunsang nur ein Vorwand? Eine Sache, von der ich mir einbildete, dass ich sie tun musste? Allein um das ging es: dass die Dinge aus sich heraus einen Sinn ergaben. Und wie stand es mit mir? Ich war zurück, aber ich war nicht zu Hause. Diese Welt war mir fremd, irgendwie ungemütlich, das ganze System lehnte ich ab. Vielleicht hatte Kunsang das Gefühl der Heimkehr anders erlebt, als mein sachliches Denken es zuließ. Einer unserer großen Lamas hatte mal gesagt, dass die tibetische Kultur all das geworden war, wonach die Menschen sich sehnten, entweder weil es verlorengegangen oder noch nicht verwirklicht worden war, oder weil es Gefahr lief, ganz außerhalb des irdischen Blickfelds zu entschwinden. Nun, letzteres traf offenbar zu, und Kunsang hatte es längst begriffen. Für uns alle gab es eine Welt der Botschaften und Symbole, ein fernes Land der Träume. Irgendwie hatte Kunsang es geschafft, eine Brücke zu finden. Was sie erlebte, mochte phantastisch sein. Und gleichzeitig eben auch sehr gefährlich.
    »Aber sei ehrlich!«, sprach ich zu mir selbst. »Du bist nicht nur ihretwegen hier.« Nein, gewiss nicht. Ich wollte einen Mann wieder sehen. Vielleicht würde ich von ihm enttäuscht sein, auch damit musste ich mich abfinden. Aber für eine Zeitlang, für ein paar Jahre, hatte Atan etwas verkörpert, das kostbar für mich gewesen war. Eine Mischung aus Ehre, Mut und Geschicklichkeit, aus wahrhafter Seelenstärke und Verachtung aller Gefahren. Er hatte die Gesinnung eines Nomaden, der ein raues Leben führt, sich jedoch seine Handlungsfreiheit bewahrte. Er war kaum zur Schule gegangen, sein ganzes Leben hatte im Zeichen des Krieges gestanden; und doch drückte er sich aus wie ein Dichter, oder wie ein Mensch einer versunkenen Welt, der mit vollem Bewusstsein die heutige Zeit erlebt. Bei Atan hatte ich mehr als Intelligenz gefunden: eine geheimnisvolle Weisheit, deren tiefgründiger Ursprung weder im Studium noch in den Büchern zu finden war, sondern einzig und allein in der Verbindung mit der Natur. Er bewahrte in sich den Mythos einer übernatürlichen Gerechtigkeit, bot den Besetzern Widerstand, entging ihren Sitten, Ordnungen und Gesetzen. Einen solchen Mann hatte ich geliebt. Sollte ich das Bild jetzt zerstört 177
    sehen, sei es unter dem Druck der Umstände, sei es, weil jeder Mensch sich im Laufe seines Lebens verändert, so würde diese Enttäuschung der Preis sein, den ich ohne Bitterkeit zu zahlen hatte.
    Am nächsten Morgen erreichten wir Chamdo, die Hauptstadt Khams. Zwei Gletscherströme umarmten die Stadt, wie ein Burggraben, bevor sich die Wassermassen tosend vereinigten. Der schlammige Fluss, der sich mit blasigen Wellen gegen den Sog wehrte, war der Mekong. Der Name bestand, der Klang war dahin.
    Das bräunliche Wasser schlug ans Ufer, zog Blechbüchsen, Plastik, rostiges Aluminium und teerverschmierte Holzabfälle mit sich. Der Fluss war tot, alle Flüsse waren tot, alle Städte krank, und zerlumpte tibetische Arbeiter rührten Zement für chinesische Wohnblöcke. Die vielen Fahnen in den Farben der Volksrepublik knallten in den Ohren, die Lautsprecher schepperten, das Leben marschierte im Gleichschritt. Die Menschen strömten in die Industriezentren, in die Fabriken. Bauern wollten zum Markt. Kinder gingen in die Schule, wo sie Chinesisch lernten. Ohne Chinesisch waren die Kinder aufgeschmissen, konnten sie die höhere Schule nicht besuchen.
    Jungen und Mädchen trugen grüne und blaue Plastikmützen und abgewetzte Turnschuhe. Die jungen Chinesinnen trugen Strohhüte, Shorts oder Miniröcke, dazu weiße Kniestrümpfe über fleischfarbenen Strumpfhosen. Die Tibeterinnen hatten bunte Wollquasten in ihr Haar geflochten, die Männer

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