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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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wie ein Spielzeug.
    Nach Sonnenuntergang erklärte Jampel, er wolle nicht weiterfahren: Der Passweg sei bei Dunkelheit gefährlich. Im nächsten Dorf kannte er eine Herberge; ein paar Lastwagen standen schon davor. Jampel setzte sich zu ein paar anderen Männern. Alle schlürften ihre Tsampa-Suppe, tranken, lachten und grölten. Dichte Rauchschwaden machten die Luft stickig. Der Besitzer der Herberge schlug Butter in den Tee, indem er zwei Essstäbchen zwischen den Handflächen rieb. Seine Frau, mit einem breiten, mütterlichen Gesicht, knetete Tsampa-Kügelchen mit besonders viel Zucker für mich, gab einige Brocken trockenen Käse hinzu.
    Nach dem Essen führte sie mich in den Schlafraum für Frauen.
    Schmutzige Matratzen lagen auf rostigen Drahtbettgestellen. Einige Frauen hatten sich bereits zur Ruhe gelegt. Eine Großmutter war stark erkältet und hustete. Im trüben Licht der Glühbirne, die an einem Draht baumelte, sah ich ihr Gesicht, rot vor Fieber. Sie schluckte dankbar die Tablette, die ich ihr in einem Glas mit etwas Wasser überreichte. Das Mittel wirkte, die Frau schlief friedlich, bis die Kälte uns alle in den frühen Morgenstunden weckte.
    Gleich nach dem Frühstück setzten Jampel und ich unsere Reise fort. Die Straße wurde immer schlechter. Im Winter waren hier Lawinen heruntergekommen; die Steinblöcke lagen noch da. Der ganze Lastwagen dröhnte und bebte. Ja, ja, meinte Jampel, die Strecke hat es in sich! Endlich erblickte ich mit Erleichterung den steinernen Lahrtsen – das Gebetsheiligtum –, das die Passhöhe 180
    anzeigte. Der Tradition entsprechend hielt Jampel an. Wir stiegen aus, legten einen Stein zu den vielen anderen. Jampel befestigte eine Glücksschärpe um den Lahrtsen, wobei er ein kurzes Gebet sprach.
    Ich beobachtete gerührt sein derbes Gesicht, das die Andacht verklärte und beruhigte. Die zahlreichen im Wind flatternden Stofffetzen zeigten, dass jeder Fahrer den Brauch befolgte. Nach der Passhöhe führte die Straße in großen Schleifen abwärts ins Tal.
    Jampel beschleunigte seine Fahrt; der Motor schepperte und dröhnte.
    Der Lastwagen raste wie ein wild gewordenes Pendel von Kurve zu Kurve, aus dem eisigen Schatten in das sengende Sonnenlicht und wieder zurück. Manchmal neigte sich das Fahrzeug zur Seite; ich hatte das beklemmende Gefühl, mich auf die andere Seite werfen zu müssen, weg von dem mehrere hundert Meter tiefen Abgrund mit seinen messerscharfen Felszacken. Jampel merkte, wie ich mich versteifte, und lachte schallend.
    »Augen schließen!«
    Endlich wurde die Straße ebener. Jampel blinzelte mir zu.
    »Angst gehabt?«
    »Nein, ich fand es wunderbar«, sagte ich gereizt.
    Er verschluckte sich vor Lachen.
    »Aber gerade deswegen bin ich doch so schnell gefahren! Damit Sie es wunderbar finden!«
    Ich gab ihm nicht die bissige Antwort, die mir auf der Zunge lag, denn vor uns öffnete sich ein Hochtal; ich sah in der Ferne eine Anzahl dunkler Punkte, die sich bewegten. Jampel nickte mir zu.
    »Nomaden. Sie sind mit den Viehherden ihrer Kommune unterwegs. Das Getreidedreschen ist bald vorbei. In den Dörfern ist Erntefest. Die Nomaden verkaufen ihre Waren oder treiben Tauschhandel. Das ist nicht erlaubt, aber die Nomaden machen, was sie wollen.«
    Mein Herz klopfte stürmisch.
    »Haben die Chinesen die Feste nicht verboten?«
    Er zeigte sein schlaues Grinsen.
    »Eine Zeitlang, ja. Doch wer fängt einen Tiger mit den Händen?
    Das Volk feiert heimlich. Schließlich mussten die Chinesen die Feste wieder erlauben.«
    Zu meinem Erstaunen entpuppte sich Jampel als ausgezeichneter Kenner der tibetischen Tradition. Am dreißigsten des sechsten Monats, erzählte er mir, riefen die Orakel die Götter, damit sie sich an dem Fest erfreuen konnten. Frauen und Männer kamen in ihren 181
    schönsten Kleidern, mit ihrem schönsten Schmuck. Die Hörner der Yaks wurden mit bunten Bändern umwickelt. Die gebürstete Mähne der Pferde glänzte. Alle waren auf prachtvolle Weise gezäumt, ihre Sättel poliert. Mit Reiterspielen und Ringkämpfen, mit Tanz und Gesang wurde den Göttern für die gute Ernte gedankt. Die Götter wurden sichtbar, ja, so war es, und lachten und freuten sich mit den Menschen.
    »Treten auch Theatergruppen auf?«
    »Oh ja, sie kommen aus ganz Tibet. Auf der Hochebene findet die Erntezeit später als im Flachland statt; hier ist das Klima sehr rau; das Korn gelangt verzögert zur Reife.«
    Ich sagte, dass ich hier war, um solche Aufführungen zu sehen.
    »Sie

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