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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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die Nachricht erreichte uns mit einiger Verspätung. Er hat ein bedeutungsvolles Leben geführt.«
    Ich erzählte, dass ich ihn persönlich getroffen hatte.
    »Er selbst war nicht in der Lage, mir Unterricht zu geben. Aber ich blieb einige Jahre im Tashi-Pakhiel-Camp, bei Karma, arbeitete als Volontärin im Krankenhaus. Karma willigte ein, mich auszubilden, und gab sich viel Mühe mit mir.«
    »Sie sind also nicht umsonst gegangen.«
    »Die Pulsdiagnose, die ich bei ihr gelernt habe, wende ich heute in Europa an.«
    »Aber Ihre Schwester haben Sie nicht wiedergesehen«, sagte er und zwang mich das auszusprechen, was mich am meisten belastete.
    »Nein. Sie war bereits tot, als ich in Lhasa eintraf.«
    Er beobachtete mich teilnahmsvoll, aber ohne sichtbare Regung.
    Noch wehrte sich mein Herz, aber ich schuldete es seiner Ehre, ihn nicht warten zu lassen. Und so erzählte ich ihm alles, was ich über Chodonla in Erfahrung gebracht hatte, und empfand sogar Erleichterung dabei.
    Als ich schwieg, wurde die Stille so tief, dass ich in weiter Ferne das Tosen des Verkehrs hörte. Doch ein Vogel hatte sich auf einen Baum gesetzt, unterhalb der Mauer, und sang: Es hörte sich an, als ob aus seiner Kehle Perlen rieselten. So vergingen einige Augenblicke. Dann hob ein schwerer Atemzug Sherab Rimpoches Brust.
    »Unsere Lehre von der Wiedergeburt ist eng mit dem persönlichen Schicksal verbunden. Aber unser Schicksal ist keines, was uns die Götter aufzwingen, sondern ein selbst verursachtes. In jedem Leben wird das Maß an Leiden und Freuden, das uns zugeteilt ist, durch die guten und bösen Taten im vorherigen Leben bestimmt.
    Und es gibt nur gute und schlechte Taten bezüglich ihrer Auswirkung, und nicht – wie oft angenommen wird – im Sinne einer 192
    moralischen Wertung. Die eigene Erkenntnis ist dabei entscheidend.
    Chodonlas Taten waren in der Auswirkung gut. Ihre Leiden führen zu einer tieferen Erfahrung. Ich möchte glauben, dass sie von einem Leben zum nächsten immer deutlicher erkennt, wer sie ist und wohin ihr Weg führt…«
    Er sprach, als ob kein noch so großes Ausmaß des Bösen in der Welt seinen Glauben erschüttern konnte. Ich jedoch, in meiner erdhaften Verwurzelung im Hier und Jetzt, maß an seiner Unbefangenheit meine eigenen Widersprüche. Mein Herz sehnte sich schmerzlich danach, seine Überzeugung zu teilen. Ich brauchte sie so nötig wie Trost. Ich sagte matt:
    »Nun ja, ich muss zu verstehen suchen…«
    In seinen Augen tanzte ein ironischer Funke.
    »Ich denke, Sie haben zu lange in Europa gelebt.«
    Ich seufzte.
    »Das denke ich auch.«
    »Wenn Sie nicht genau wissen, was zu tun ist«, sagte er, »tun Sie das, was Sie für richtig halten. Wer für die Wahrheit kämpft, kann nicht warten, bis einer sagt: Du musst jetzt kämpfen. Die Welt ist nur Illusion, und doch gibt es uns. Wie der Mensch hat auch das Universum seinen Lebenslauf; ich glaube, dass der Lebenslauf des Menschen sich mit dem des Universums deckt. Alles erfährt Glück, Sorgen, Schmerz. Wie der Mensch, so auch der Stein am Wegesrand…«
    Er legte die schmale Hand auf die nackten Bodenfliesen.
    »Diese Klosterburg stand tausend Jahre, bevor eine einzige Nacht ihre Zerstörung sah. Sicher denken Sie jetzt, sie war nur aus Stein.
    Aber das war sie nicht. Sie konnte sprechen und schreien, und wir hörten zu. Sie war ein Teil unserer Mutter, der Erde.«
    Ein leichtes Rauschen erfüllte meine Ohren. War es bloß das Tosen des Verkehrs? Ich schluckte und sagte:
    »Als ich mich damals zu Chodonla auf den Weg machte, war ich, wie Sie bereits wissen, in Begleitung eines Mannes. Dieser Mann half mir nach Chodonlas Tod, ihre kleine Tochter aus Tibet zu bringen. Der Name dieses Mannes ist Atan.«
    Er nickte vor sich hin. Ein merkwürdiges Lächeln umspielte seine Lippen.
    »Atan. Shelos Sohn. Wir nannten sie die ›Herrin der Pferde‹.«
    Mein Herz schlug stürmisch. Ich beugte mich vor.
    »Kennen Sie Atan?«
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    Er sah mir geradewegs ins Gesicht; ich empfand die tiefe Kraft seiner Gedanken; es war, als sprachen wir zueinander, von Herz zu Herz.
    »Seit frühester Kindheit. Es spielte keine Rolle, dass Atan aus wohlhabender, fast herrschaftlicher Familie kam, während meine Eltern von der Feldarbeit lebten. Sie waren sehr religiös, und schon als Kind interessierte ich mich dafür, die spirituellen Dinge genauer zu erforschen. Dazu kam, dass ich als Wiedergeburt erkannt worden war, weil sich die Nabelschnur wie eine Gebetskette um meinen

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