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Die Tochter der Tibeterin

Die Tochter der Tibeterin

Titel: Die Tochter der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Schluck. Seine schwarzen Augen ließen nicht von mir ab.
    »Ihr Tibetisch ist bemerkenswert gut.«
    Ich verzog leicht das Gesicht.
    »Ich spreche Tibetisch mit meinen Eltern – heute ist nur noch meine Mutter am Leben – und meinen Geschwistern. Aber ich habe vieles vergessen. Es tut mir Leid.«
    »Was ist Ihr Beruf?«
    »Ich bin Ärztin.«
    Er machte eine lebhafte Geste.
    »Das ist ein guter Beruf für eine Frau. Ich war schon immer der Meinung, dass Frauen die besseren Ärzte abgeben. Der Respekt vor fremdem Leben ist dem Menschen nicht gegeben; diese Fähigkeit muss er lernen. Ich neige dazu zu glauben, dass Frauen von Natur aus mehr Mitgefühl als Männer aufbringen. Gewiss liegt es daran, dass sie das Ungeborene in ihrem Körper tragen. Wäre diese Erfahrung uns Männern möglich, sähe die Welt etwas anders aus.
    Können Sie mir sagen, warum eigentlich so wenig Frauen den Arztberuf ergreifen?«, setzte er hinzu.
    Ich dachte, der Mann ist wirklich bemerkenswert. Seine Augen sagten mir, neben vielem andern, dass auch er aus einem Geschlecht von Nomaden stammte, für die die Mutter das Heiligste auf Erden ist.
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Viele Frauen denken vielleicht, dass das Studium zu lang und zu aufwendig ist.«
    Er schmunzelte.
    »Wahrscheinlich haben Sie recht. Wir Menschen suchen stets den bequemeren Weg.«
    »Das ist wahr.«
    »Höchst bedauerlich, aber das liegt in unserer Natur.«
    Er nahm einen Schluck Tee. Seine verkrüppelten Hände hielten den Becher so geschickt, als ob er ihn balancierte.
    »Nun, auch der Weg nach Lithang ist recht unbequem. Ihre Reise muss einen besonderen Grund haben.«
    Ich fühlte mich erleichtert, den gepflegten Unterton von Humor 190
    und Weisheit in Sherab Rimpoches Stimme zu hören. Ich erwiderte sein Lächeln, das mein Herz mit Wärme berührte.
    »Sie machen es mir leicht, einen Anfang zu finden.
    Ja, ich bin aus einem besonderen Grund hier. Es ist etwas kompliziert zu erklären.«
    Der Abt sprach ein paar Worte zu dem jungen Novizen. Dieser schenkte neuen Buttertee ein, bevor er mit einer tiefen Verbeugung den Raum verließ. Jetzt waren wir allein, und ich nahm kein Blatt mehr vor den Mund. Während ich sprach, beobachtete der Abt mein Gesicht sehr aufmerksam.
    »Ich hatte eine Schwester«, begann ich. »Wir waren Zwillinge, und wie solche Kinder eben sind, hingen wir sehr aneinander. In den siebziger Jahren wurde Chodonla bei unserer überstürzten Flucht aus Lhasa von uns getrennt. Jahrelang waren wir ohne Nachricht von ihr.
    Wir wussten nicht, was man ihr angetan hatte. War sie überhaupt noch am Leben? Die Ungewissheit beherrschte alles, veränderte alle.
    Dann erfuhren wir, dass sie in einem chinesischen Waisenhaus erzogen worden war, als Lehrerin in Lhasa arbeitete und eine kleine Tochter hatte. Die Wahrheit erfuhren wir erst später… «
    Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, von Chodonla zu sprechen.
    Die Begebenheiten lagen schon so weit zurück, und doch schmerzte die Wunde wie am ersten Tag. Chodonla war tot; ihr Geheimnis blieb. Ich hatte sie nie als erwachsene Frau gesehen; nur als Kind.
    Bisweilen hatte ich ihr Gesicht im Traum erblickt, doch morgens schaute ich in den Spiegel und bezweifelte es. War es vielleicht nicht doch mein eigenes gewesen?
    »Ich liebte meine Arbeit, mein Leben war nicht unbefriedigend, aber die Unruhe wuchs. Das Gefühl, dass Chodonla in Gefahr war, ließ mich nicht los. Was ich vorbringe, ist nur eine Beschreibung. Ich kann das Gefühl nicht erklären, es war einfach da…«
    Er zog langsam die Luft ein.
    »Solche Gefühle werden oft von ganz gewöhnlichen Gedankenverbindungen ausgelöst. Gefühle dieser Art entstehen im Unbewussten.«
    »Aber unser Verstand will sie nicht wahrhaben.«
    Er lehnte sich leicht vor, wie um mich besser zu beobachten. Der Schatten eines Lächelns spielte um seine Lippen.
    »Natürlich nicht. Wir wehren uns. Auch das gehört dazu. Wir sind in großem Aufruhr und machen uns vor, es sei die Phantasie, die uns mitgerissen hat. So sind wir alle. Niemand soll unser Leben 191
    durcheinanderbringen – am wenigsten wir selbst.«
    Ich lächelte.
    »Meinen damaligen Geisteszustand beschreiben Sie ziemlich genau. Und doch kündigte ich meine Stelle in der Schweiz, reiste nach Nepal, wo meine Cousine Karma lebt. Sie wurde in der tibetischen Medizin ausgebildet. Ihr Lehrer war Jonten Kalon – Sie haben gewiss von ihm gehört. Der ehrwürdige Menrampa ist inzwischen gestorben.«
    Er nickte.
    »Ja,

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