Die Tochter der Tibeterin
Nacken geschlungen hatte. Meine Eltern waren nicht gebildet in dem Sinne, dass sie die Schule besucht hatten. Es waren einfache Menschen, aber ihr wacher Geist hatte einen großen Einfluss auf mich. Dazu muss gesagt sein, dass ich kein sehr kräftiges Kind war; meine Eltern zeigten sich um meine Gesundheit besorgt und ersparten mir nach Möglichkeit die Arbeiten, die Kinder üblicherweise auf dem Feld verrichteten. Atan war, im Gegensatz zu mir, ein robuster Junge, der wenig Lust am Lernen hatte, aber ich wollte immer mit ihm spielen. Ich bewunderte ihn. Er konnte große Pferde schon in einem Alter reiten, da ich mich auf die Fußspitzen stellen musste, um ihnen Salz zu geben. In den Wintermonaten besuchten wir die gleiche Schule in Lithang. Sie wurde von guten, frommen Männern geleitet, die kein Geld forderten, sondern um der Berufung willen lehrten.
Diese Schule nahm sowohl Kinder von Adligen als auch von armen Familien auf und alle wurden gleich behandelt. Da ich einen großen Wissensdurst hatte, zog ich aus diesen Unterrichtsstunden Nutzen. Der Unterricht begann im Morgengrauen; ich hatte es stets eilig, in die Schule zu kommen, während Atan sich verspätete, noch schlief oder sogar den Unterricht schwänzte. Er hatte immer anderes im Kopf. Neben den Verwandten und Freunden, die seine Familie aufsuchten, und neben den Gästen aus den Bergen und Tälern der Umgebung waren es die Nomaden, die durch das Erzählen ihrer räuberischen Abenteuer die wildesten Phantasien in Atans neugieriger Kinderseele weckten.
Ich war neun Jahre alt, da erkrankte meine Mutter an Pocken und starb. Mein Vater, der sie sehr geliebt hatte, erholte sich nie von diesem Verlust; fünf Monate später war auch er nicht mehr am Leben. Nach der Bestattung fand mich die ›Herrin der Pferde‹
weinend. Sie nahm mich in die Arme und sprach: ›Du brauchst eine Familie. Komm als Sohn in mein Haus. Sieh nur, Atan liebt dich 194
schon wie einen Bruder! ‹
Aber der starke Glaube meiner Eltern hatte mich tief geprägt.
Obwohl ich noch sehr jung war, wünschte ich mir nichts sehnlicher, als Mönch zu werden. Shelo brachte mich zu ihrem Onkel, Tempa Rimpoche, einem der ranghöchsten Äbte der Kloster von Lithang.
Tempa Rimpoche empfing mich voller Güte; er überzeugte sich davon, dass es mir mit meinem Anliegen ernst war. Shelo fand einen Pächter, der unser kleines Gut verwaltete. So wurde ich als Novize im Kloster aufgenommen. Ich lernte freudig und hatte bald gute Grundlagen für mein späteres Studium. Und obschon ich mich manchmal danach sehnte, Atans freies Leben bei den Pferden und den großen Yakherden zu teilen, war ich glücklich im Kloster.
Tempa Rimpoche hatte angeordnet, mir bestimmte harte Übungen vorerst zu ersparen. Er freute sich über meine Fortschritte, steckte mir heimlich Süßigkeiten zu: eine Handvoll Rosinen, getrocknete Aprikosen oder etwas Gebäck von der eigenen Tafel.
Inzwischen geschahen viele folgenschwere Dinge. Unangenehme Zwischenfälle mehrten sich. Man musste blind und taub sein, um nicht zu merken, was die Chinesen im Sinne hatten. Die scheinbar gelassene Stimmung im Land war die Ruhe vor dem Sturm, bis der Aufstand losbrach und ganz Osttibet zu den Waffen griff. Die Khampa gründeten die Widerstandsbewegung Chushi Gaugdrug (Vier Flüsse, sechs Höhenzüge) und brachten den chinesischen Truppen starke Verluste bei.«
Sein Erzählen war durch Pausen unterbrochen; manchmal bewegten sich seine Lippen nur, als würden sie im Stillen die Worte, die er zu mir sprach, wiederholen.
»Im Winter 1956 fand das Neujahrsfest im Februar statt. Am zweiten Tag der Feierlichkeiten, als sich Tausende von Menschen in der Klosterburg aufhielten, nahmen chinesische Eliteeinheiten Lithang unter Beschuss. Die Belagerung sollte vierundsechzig Tage dauern. Hat Atan Ihnen erzählt, wie es war…?«
Ein Frösteln überlief mich. Ich machte ein bejahendes Zeichen.
»Das ist eine Geschichte aus unserer erbarmungslosen Zeit«, sagte Sherab Rimpoche. »Ich bin dankbar, dass ich sie nicht wiederholen muss. Nur eine Einzelheit, vielleicht: Tempa Rimpoche wurde von den Han mit Stacheldraht und mit dem Kopf nach unten an ein Brett gefesselt. Weil sie mich bei ihm gefunden hatten, drückten sie mir ein Gewehr in die Hand und befahlen mir, ihn zu töten. Da ich mich wehrte, brachen sie mir beide Arme, die 195
Hüftknochen, die Kniescheiben und die Fußknöchel. Sie taten es sehr methodisch. Noch heute ist mir ein Rätsel, warum sie mir
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