Die Tochter der Tibeterin
war zugleich das vergnügte, unterdrückte Gelächter eines Halbwüchsigen.
»Wissen Sie was? Sie machen sich das Leben unnötig schwer.«
Ich war etwas verwirrt.
»In ihrem letzten Brief erzählte sie, dass sie mit einer Truppe Wandermusikanten umherzieht und eine alte Sängerin sie unterrichtet.«
Er ordnete nachdenklich die Falten seines Gewandes.
»Mir wurde von einer Frau berichtet, die, wie wir sagen, ›unter dem Regenbogen singt‹. Das bedeutet, dass jeder Ton eine andere Klangfarbe hat. Ich erfuhr, dass sie das ganz wunderbar macht. Eine solche Stimme heißt bei uns die Stimme der Dakini.«
»Diese Frau – wer ist sie?«
»Man nennt sie ›die Sängerin‹. Um einen solchen Menschen sammeln sich bald Legenden.«
»Ihr Alter?«
»Sie ist sehr jung, wurde mir gesagt. Nicht viel älter als ein Kind.«
»Und sie tritt bei Erntefesten auf?«
»Die Schauspieler mit ihren Masken und Tänzen vertreiben das Übel und segnen die Felder. Die Zuschauer erinnern sich an all ihre Helden, Könige und Heilige aus hundert Generationen. Die Feste dauern für gewöhnlich drei Tage. Viele Teilnehmer kommen von weither… und kehren betrunken zurück! Das ist heute weniger gefährlich als früher, muss ich betonen. Viele Dörfer haben bereits Straßenbeleuchtung. Leider verfolgen die Han-Chinesen ihre eigenen Zwecke damit: Die Bauern sollen politisch geschult werden. Findet abends eine Versammlung statt, haben sie dabei zu sein. Aber wenn es stockdunkel ist, kommt keiner. Die Bauern werden ermutigt, offen zu sagen, was sie denken, was sie machen und was sie vorhaben, und Spitzel geben jede Einzelheit zu Protokoll. Das Maß an Freiheit, über das wir Tibeter verfügen, haben uns die Chinesen gegeben. Unter diesen Bedingungen wollen viele die Freiheit nicht, obwohl – dies muss gesagt werden – die Täuschung des Materiellen nicht wenige von uns anlockt. Sehen Sie, das Schlechte an der kommunistischen Denkweise ist, dass sie durchaus die Beste sein will. Die Straßenbeleuchtung ist eine feine Sache, aber unsere Seele wandert im Dunklen.«
Ich glaubte zu begreifen, was er meinte.
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»Und die Sängerin?«
Er schüttelte den schmalen Kopf.
»Sie hat sich bisher nie an einer politischen Kundgebung beteiligt. Aber ihr Gesang kommt tief aus dem Inneren unseres Volkes. Die Bauern und Nomaden hören ihre Lieder – und schon beginnt die Verwandlung. Noch ein Lied, und die Khampas satteln ihre Pferde; ein Lied mehr, und die Chinesen lassen ihre Nudelsuppe fallen. Ein weiteres Lied, und sie laufen zu ihren Toyotas, rutschen hinter die Lenkräder und brausen auf ihren neuen Straßen davon.
Und dann noch ein einziges Lied, und Seine Heiligkeit kehrt aus dem Exil zurück…«
Obwohl ich lächeln musste, schlug mein Herz unbehaglich schnell.
»Das hört sich verheißungsvoll an.«
Er blinzelte schelmisch, aber seine Worte klangen ernst.
»Es kann zum festen Glauben werden für uns alle. Die Chinesen haben uns nicht so viel Kraft genommen, dass wir nicht mehr glauben können. Die Leute denken nicht nur daran, dass sie genug zu essen haben. Natürlich sind die Chinesen gut informiert und misstrauen uns. Sie misstrauen auch unsren Talismanen – Tsha-Tsha
–, die in großer Zahl an heiligen Orten und Pilgerstätten hinterlassen werden. Sie sagen, die Votivgaben leuchten im Dunklen wie Glühwürmer. Ich finde das bemerkenswert, dass die Chinesen so etwas sehen, wo die Tsha-Tsha doch nur aus Lehm sind! Was sagen Sie dazu?«
»Die Welt ist voller Wunder«, entgegnete ich, halb lächelnd, halb ernst.
»Nicht wahr? Und gibt es, wenn man es genau bedenkt, nicht Grund zur Hoffnung? Der Wind trägt den Geruch der heimkehrenden Herden mit sich, die Früchte sind noch die unseren.
Die Schauspieler singen hinter ihren Masken, die Nomaden tanzen im Wind und im Licht. Zwar behauptet jeder Han-Chi-nese, es stünde uns frei, unsere Kultur zu pflegen, aber sie fühlen sich nicht wohl dabei. Vielleicht ist ihre Angst nicht unbegründet. Mir kam zu Ohren, dass die ›Sängerin‹ unter Beobachtung steht.«
Ich erschrak. Kunsang? War es Kunsang? Ja, wahrscheinlich, aber eine andere Kunsang als die, welche ich bisher gekannt hatte.
Eine, die mir vollkommen aus den Händen geglitten war. Ich traute mich kaum, ihm zu sagen, welche Angst ich hatte.
»Irgendwann«, seufzte ich, »wird sie ja wohl Vernunft 199
annehmen.«
»Vernunft?« Er zog die Silben, als ob er das Wort nicht verstand, und lächelte kummervoll. »Manchmal ist die
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