Die Tochter der Tibeterin
nicht auch den Schädel einschlugen. Wahrscheinlich wollten sie, dass ich als Krüppel weiterlebte. Sie taten manchmal sehr merkwürdige Dinge. Tempa Rimpoche aber folterten sie mit glühenden Eisenstangen. Zwischendurch behandelten sie seine Wunden, damit er noch tagelang am Leben blieb.«
Er schüttelte den Kopf und hielt inne, bevor er, nach einem tiefen Atemzug, weitersprach.
»Doch nicht genug. Sie nahmen auch die ›Herrin der Pferde‹
gefangen. Wissen Sie, wie sie gestorben ist?«
»Atan hat es mir erzählt.«
Sein Blick verlor sich im Leeren.
»Sie stand auf dem Turm und sang jede Nacht; sie rief die Geister aus dem fernen Himmel und der Tiefe der Erde; sie webte mit ihrer Stimme einen Schleier, der über der Stadt hing und die Geschosse ablenkte. Doch sie war nur ein Mensch und verausgabte ihre Kräfte. Und es kommt vor, dass ein starker Lebenfaden ein Fluch ist. Atan hat getan, was er tun musste. Er verantwortete es vor dem Himmel. Wenn auch die Götter es ihm vergaben, er selbst fand niemals Ruhe… «
Sein Mund sprach zu mir, doch gleichzeitig sprachen auch seine Augen; was konnte ich noch sagen, das er nicht schon wusste?
»Seit ihrem Tod sind viele Jahre vergangen. Aber der Wind trägt ihren Gesang um die ganze Erde. In hundert Jahren noch werden die Großeltern ihren Kindern erzählen: ›Das war die Herrin der Pferde, und das waren ihre Taten‹. Und die Kinder werden gespannt lauschen und es später ihren Kindern erzählen.«
Wieder tasteten die gebogenen Fingerspitzen seiner langen Hand über die Bodenplatten, als ob sie eine Vergewisserung, eine Bestätigung suchten.
»Die Zeit geht dahin, und sie ist immer noch hier, obwohl ihr nichts bleibt, als ohnmächtig zuzusehen, wie die Bäume über die Ruinen wachsen. Sie singt noch heute zu uns, leise, leise. Dann atmen die Steine Licht aus. Und wenn wir uns mächtig anstrengen, hören wir ihr Herz schlagen… «
Er sah mich an, mit einem langen Blick. Es war eine Geschichte, die einen Kreis zog, in unbekannte Räume und Dimensionen. Eine Geschichte, die erzählt werden musste, und vielleicht eine neue, die gerade erst begann. Und mein Anteil daran würde unvermeidlich und 196
unabdingbar sein.
Ich fühlte einen Moment absoluter Hilflosigkeit. Es konnte nicht mehr in Frage gestellt werden. Und als ob mir der Heilige Lama Zeit geben wollte, meine Gedanken zu ordnen, rief er den Novizen herein. Dieser erschien, goss neuen Buttertee ein. Nach einigen Augenblicken, als er wieder gegangen war, hatte ich meinen Entschluss gefasst und erzählte von Kunsang. Ich sprach wie aus einem inneren Zwang heraus. Dabei spürte ich eine Welle undefinierbarer Erregung in mir aufsteigen. Ich sprach zu einem Menschen, der dieser Geschichte einen Sinn geben konnte. Er – der Heilige Lama – saß noch da, mit seinen steifen, schmerzenden Gliedern. Und schenkte mir seine volle Aufmerksamkeit. Als ich geendet hatte, nickte er nachdenklich.
»Die Vergangenheit ist nicht wie der prasselnde Regen, der die Erde trocken zurücklässt, sondern wie Wasser, in einer Grube gefangen. Werfen wir einen Stein in dieses Wasser, entstehen Wellen, die sich vermehren. Bestimmt hat sie ein Zeichen empfangen.«
Ich dachte an gewisse Stellen in Kunsangs Tagebuch: Sie hatte in ungeschickter, kindlicher Form etwas ähnliches ausgedrückt.
»Ich bin sehr besorgt um sie.«
Er erwiderte ruhig:
»Es gibt eine Aufgabe, die uns von einer Wiedergeburt zur anderen aufgetragen wird. Doch wir sind frei. Wir können diese Aufgabe annehmen oder von uns weisen.«
Ich rieb mir die Stirn.
»Sie sang für Atan, als sie zwölf Jahre alt war. Sie sagte zu ihm:
›Wenn ich singe, sehe ich Bilder. Ich sehe sie ganz deutlich und kann sie anderen zeigen. Wähle ein Bild, und ich zeige es dir!‹ Und dann sang sie, und Atans Mutter erschien ihm als Vision. Das ist der unglaubliche Teil der Geschichte. Es war Kunsangs Schöpfung, verstehen Sie. Dass Atan bestürzt sein könnte, kam ihr nicht einmal in den Sinn.«
Er antwortete ohne zu zögern.
»Das ist doch ganz natürlich. Kinder wollen sich wichtig machen.
Aus ihrer Sicht war das einfach nur ein Spiel.«
Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. Ich quälte mich mit etwas Unbekanntem und fühlte mich zunehmend hilfloser.
»Ein Spiel? Ja, vielleicht. Ich habe keine Erklärung dafür. Und ich frage mich am Ende, ob das Problem nicht bei mir liegt.«
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Zu meinem großen Erstaunen hob er die Hände und kicherte. Es klang etwas gönnerhaft und
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