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Die Tochter der Wälder

Die Tochter der Wälder

Titel: Die Tochter der Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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versunken in meine Arbeit, dass ich nicht sah, dass mein Begleiter zum Strand heruntergekommen war, bis mir der Wind das Haar über die Augen blies und ich den Kopf hob, um es über die Schulter zurückzuwerfen. Der Rote saß nicht weit von mir entfernt, sah mir zu, und er überraschte mich mit einem Lächeln auf den Lippen, dem ersten echten Lächeln, das ich je an ihm gesehen hatte, einem Lächeln, das den festen Mund weicher machte, die eiskalten Augen wärmte; einem Lächeln, das das Blut in meine Wangen trieb und bewirkte, dass mein Herz sich zusammenzog.
    Etwas tief in mir rief: Gefahr! Du kannst dir nicht leisten, dieser Abzweigung deines Weges zu folgen. Ich wandte mich von ihm ab, denn als ich dieses Lächeln sah, spürte ich Simons Hand, die meine entsetzt umklammerte, als wäre sie ein Talisman. Als ich in die Augen des Roten sah, die tiefe Einsamkeit dort entdeckte, hörte ich Simons Stimme wie die eines Kindes: Lass mich nicht allein. Diese beiden Männer baten mit wenig Worten um mehr, als ich geben konnte. Ich wandte ihm den Rücken zu, setzte mich hin und beobachtete die Vögel über dem Meer. Möwen und Gänse und andere, die ich nicht benennen konnte, große, weitflüglige Reisende. Es gab jetzt keine Schwäne dort, aber irgendwo hinter dem weiten Wasser warteten sie. Das war alles, was zählte.
    »Simon und ich sind oft hierher gekommen«, sagte der Rote hinter mir. »Vor langer Zeit. Niemand sonst kennt diese Bucht. Die Seehunde kommen her, um sich auszuruhen – nicht lange, sie verbringen den größten Teil ihres Lebens im Wasser und lassen sich nur sehen, wenn sie es wollen. Wir wussten nie, ob sie hier sein würden oder nicht. Ich wollte es dir zeigen.«
    Ich nickte, aber ich sah ihn nicht an.
    »Es gibt eine alte Geschichte über diesen Ort«, sagte er. »Es ist eine Geschichte von einer Seejungfrau wie der, die du da gezeichnet hast. Dein Volk kann solche Geschichten gut erzählen. Ich habe kein Talent mit Worten. Aber ich denke, diese Geschichte würde dir gefallen.«
    Nun hatte er mich wirklich überrascht. Ich drehte mich halb herum. Er saß im Schneidersitz auf dem Sand, immer noch mit seinen Reitstiefeln. Zumindest hatte er den Umhang, sein Buch und die Feder oben auf dem Felsen gelassen. Ich sah ihn stirnrunzelnd an und zeigte ihm meine bloßen Füße, dann zeigte ich auf seine. Drückte meine Zehen in den Sand. Du kannst dich zumindest so weit gehen lassen. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, aber dann zog er die Stiefel aus, stand auf und ging hinunter zum Wasser, zur Meerjungfrau. Er betrachtete sie mit einem Lächeln, und die kleinen Wellen krausten sich um seine Füße.
    »Die Leute in dieser Gegend leben vom Fischen«, sagte er. »Schon als Kind lernt man, wie man ein Netz auswirft oder einen Fisch zerlegt. Aber es gab einen Jungen, der diesem Ruf nicht folgte. Alles, was er tat, tagein, tagaus, war auf den Felsen zu sitzen und Flöte zu spielen. Tänze, seltsame Melodien, die er sich selbst erfunden hatte. Sein Vater verzweifelte an ihm. Seine Mutter erklärte, er sei die Schande der Familie. Aber Toby – so hieß er – schaute nur hinaus aufs Meer und spielte Flöte, und nach einiger Zeit kamen die Menschen und lauschten seinen Melodien mit Ehrfurcht, denn in seiner Musik fanden sie die Freude und die Sehnsucht ihrer eigenen Herzen wieder.«
    Ich war verblüfft. Ich hätte nicht geglaubt, dass der zugeknöpfte Hugh von Harrowfield solche Worte in sich hatte.
    »Der Junge wurde zum Mann. Manchmal baten sie ihn, bei einer Hochzeit zu spielen, und er kam widerstrebend und ging, sobald er konnte, wieder nach Hause. Und dann kommt der seltsame Teil der Geschichte. Seltsam, aber wahr, heißt es, denn ein Mann, der die Netze flickte, sah es mit eigenen Augen. Toby saß in der Abenddämmerung eines Sommertages allein auf den dunklen Felsen, und die Töne seiner Flöte schwebten rings um ihn her in der Luft. Und neben ihm war plötzlich eine junge Frau mit Haut so bleich wie Mondlicht und langem dunklem Haar wie Algen, das ihre Nacktheit verbarg, und großen, feuchten Augen mit einer Spur des weiten Meeres in ihnen. Sie war aus dem Wasser gekommen, und einen Augenblick lang glaubte der Mann das Blitzen eines silbrigen Schwanzes zu sehen, das Schimmern von Schuppen in den Strahlen der untergehenden Sonne; aber als er wieder hinschaute, saß sie züchtig auf den Felsen und lauschte entzückt der Musik, und sie schien eine Frau wie jede andere, wenn man einmal davon absah, dass sie

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