Die Tochter der Wälder
dessen kalte Augen und angespannter Mund nichts verrieten, der am wenigsten Worte fand, wenn er versuchte, sein Herz sprechen zu lassen, war das eine grausame Herausforderung. Du kannst es, sagte ich ihm lautlos. Erzähl mir deine Geschichte. Ein Fuß vor den anderen, geradeaus.
»Es war einmal … es war einmal ein Mann«, begann er zögernd, »der alles hatte. Er war in eine gute Familie geboren, er war wohlhabend, gesund an Körper und Geist und der älteste Sohn und Erbe großer Ländereien, deren Grenzen im Westen das Meer bildete, im Osten die Hügel, dessen Felder fruchtbar waren und in dessen Flüssen es vor Fischen nur so wimmelte.«
Conors Stimme bildete einen ernsten Kontrapunkt, wenn sie seine Worte in unsere Sprache übersetzte. Finbar saß am Fenster, den Blick ins Nichts gerichtet. Er verstand, dachte ich. Nicht nur die Worte, sondern die Bedeutung dahinter. Finbar und ich, wir sind die einzigen, die es wissen. Aber Finbars Miene und seine Augen verrieten nichts.
»Er wuchs auf«, fuhr der Rote fort, »und sein Vater starb, und das Land gehörte ihm bis auf einen kleinen Teil, der seinem jüngeren Bruder zufallen sollte. Sein Leben war vorgezeichnet bis in jede Einzelheit. Er würde zu seinem Vorteil heiraten, er würde seine Ländereien erweitern, für seine Familie und seine Leute sorgen und die Arbeit seiner Vorfahren weiterführen. So ist der Weg vieler guter Männer vorgezeichnet, und sie leben nach diesem Muster und sind froh, ihren Söhnen Friede und Wohlstand vererben zu können.« Er verlagerte das Gewicht leicht. Seine Hände, die ihm immer noch auf den Rücken gefesselt waren, klammerten sich umeinander.
»Dann … dann veränderten sich die Dinge. Übel befiel seine Familie, nahm seinen jungen Bruder weg und sandte ihn in die Gefahr. Mit der Zeit wurde deutlich, dass der Mann sein Land verlassen und diesen Bruder suchen musste, um herauszufinden, ob er tot war oder noch lebte. Aber er liebte sein Zuhause und seine Felder, und er glaubte im Grunde nicht, dass sein Bruder überlebt hatte. Er hielt ihn für verloren. Also wartete er und wartete er, bis wirklich keine andere Wahl mehr bestand, als sich über das Meer aufzumachen und die Wahrheit zu suchen.«
Er hielt einen Augenblick inne. Vielleicht war ich die einzige, die wusste, wie er diesen Augenblick benutzte, um seine Gedanken zu sammeln, sich dazu zu zwingen, langsam und stetig zu atmen, und seine ganze Willenskraft darauf zu konzentrieren, dass seine Stimme fest klang. Für die anderen war es immer noch nur eine Geschichte, wie die anderen Geschichten, die wir abends gehört hatten, komische und seltsame Geschichten, heroische und ehrfurchterregende, jene Geschichten, die den Stoff unseres Geistes bildeten.
»Der Mann reiste weit, und er hörte und sah viele seltsame Dinge. Er erfuhr, dass – dass Freund und Feind nur zwei Gesichter desselben sind. Dass der Weg, von dem man glaubt, dass man ihn schon längst gewählt hatte, dass er konstant und unveränderbar, breit und gerade ist, sich in einem einzigen Augenblick verändern kann. Er kann abzweigen, er kann sich biegen und den Reisenden an Orte führen, die weit über sein wildestes Vorstellungsvermögen hinausgehen. Er lernte, dass es Geheimnisse gibt, von denen er sich nicht hätte träumen lassen, und dass er bis zu diesem Punkt, solange er ihre Existenz leugnete, sein Leben nur halb bei Bewusstsein verbracht hatte.«
Ich sah, wie mein Vater an dieser Stelle ernst nickte. Aber Liam und Conor runzelten beide noch die Stirn und bissen die Zähne zusammen, und Donals Miene war finster.
»An einem Abend veränderte sich alles. Er … er hatte die Gelegenheit, eine junge Frau vor dem Ertrinken zu retten, und von dem Augenblick an, in dem er sie aus dem Wasser zog, halb verhungert, halb wild, wie sie war, wusste er es. Von diesem Augenblick an würde jeder Schritt, den er machte, jede Entscheidung, die er traf, etwas anderes sein, wegen ihr. Sie war kaum mehr als ein Kind, verirrt, verletzt und verängstigt. Aber stark. Sie war der stärkste Mensch, dem er je begegnet war. Und er hatte Gelegenheit genug, das zu erfahren, als sie auf der schwierigen Heimreise an seiner Seite blieb. Sie heilte ihn, obwohl er ihr Feind war. Sie zeigte ihm Dinge, die beinahe über sein Verständnis hinausgingen, so seltsam und wunderbar waren sie. Davon will ich nicht mehr erzählen, denn einige Geheimnisse sollen lieber unausgesprochen bleiben.«
Er senkte seinen Kopf ein wenig und holte tief
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