Die Tochter der Wanderhure
Hiltruds Schmerz nicht weniger heftig gewesen als der, den Marie nun empfand. Sie schluckte die Tränen, die wieder in ihr aufstiegen, und strich ihrer ältesten Freundin über das weiße Haar. »Man muss für alles im Leben einmal bezahlen, Hiltrud, auch für das Glück!«
»Man soll sich aber auch im Unglück daran erinnern, wie glücklich man war. Michel würde es so wollen«, antwortete Hiltrud und spürte sogleich, dass Marie für solche Worte noch nicht offen war. Seufzend ließ sie sie los, damit Anni und Alika ihr Beileid wünschen konnten. Die Wirtschafterin auf Kibitzstein weinte, als hätte sie ihr liebstes Familienmitglied verloren, während die Mohrin Töne ausstieß, die allen durch Mark und Bein gingen.
Nun kam auch Karel herbei, der sehr an Michel gehangen hatte, und ihm folgten die anderen Mitglieder des Haushalts und die Bauern aus den Kibitzsteiner Dörfern, die alle der Herrin und ihren Töchtern ihre Anteilnahme bekundeten. Die ehemalige Marketenderin Theres hatte sich trotz der Schmerzen, die sie einem langen, harten Leben auf dem Bock des Handelskarrens zu verdanken hatte, auf den Burgberg hinaufgeschleppt und fasste unter Tränen nach Maries Händen.
Während all diese Menschen vorbeizogen, blieb Hiltrud seitlich hinter Marie stehen und beobachtete ihre Freundin. Marie musste bald begreifen, dass nicht nur der Tote Anspruch auf sie hatte, sondern auch all diejenigen, die auf Kibitzstein und dem dazugehörigen Land lebten. Wenn die Burgherrin die Zügel nicht wieder aufnahm, würde es mit Michels Erbe bald bergab gehen, und es bestand die Gefahr, dass Maries und Michels Sohn Falko, aber auch die Mädchen eines Tages vor dem Nichts standen. Bei dem Gedanken sah Hiltrud Trudi scharf an und versuchte zuerkennen, wie es jetzt zwischen ihr und Marie stand. Ihr Patenkind schien vor Kummer gebrochen zu sein, es klammerte sich an die Mutter, aber auch an Lisa und Hildegard, als seien sie der letzte Halt vor einem unendlich tiefen Abgrund. Das machte der Ziegenbäuerin Sorgen. Wenn Trudi sich gehenließ, würde sie Marie nicht die Stütze sein, die die Burgherrin mehr denn je benötigte. Andererseits hatte die gemeinsame Trauer um Ehemann und Vater alle Zwistigkeiten hinweggespült.
Dies beruhigte Hiltrud ein wenig, denn Streit und Missverständnisse hätten die Lage auf Kibitzstein nur erschwert. Michels Tod hatte eine Lücke gerissen, die Marie nur mit Hilfe ihrer Töchter halbwegs würde schließen können. Alika war Hiltruds Blick gefolgt und hatte ihr Mienenspiel ebenso beobachtet wie das der Herrin und ihrer Töchter. Nun atmete sie erleichtert auf. Zwar wusste sie ebenso wenig wie die Ziegenbäuerin, ob Marie in Trudis Geheimnis eingeweiht war, doch sie hoffte, dass das Band zwischen Mutter und Tochter stark genug war, um auch das zu überstehen.
Mit einem Blick des Einverständnisses wandten die beiden Frauen sich Anni zu, die gar nicht aufhören wollte, an Maries Hals zu hängen und Michels Tod wortreich zu beklagen. So, wie die Wirtschafterin sich aufführte, lag der Verdacht nahe, dass sie in Maries Ehemann verliebt gewesen war. Aber wenn es so war, hatte Anni ihre Gefühle gut verborgen und niemals verbotene Pfade betreten.
Alika beschloss, Anni in Zukunft etwas nachsichtiger zu betrachten. Die Tschechin hatte sich bisher mit aller Kraft für ihre Herrschaft eingesetzt, und Marie war nun mehr denn je auf eine gute Wirtschafterin angewiesen. Sich selbst fragte die Mohrin, wie sie Marie am besten unterstützen konnte, und nahm sich vor, jederzeit für ihre Freundin da zu sein. Sie stieß noch einmal die schrillen Klagelaute aus, mit denen in ihrer fernen Heimat Tote betrauert wurden, und trat zu Trudi, um sie zu umarmen. Dannschloss sie Lisa in die Arme, und zuletzt Hildegard, die wie ein schmaler Schatten dastand und keine Tränen mehr hatte.
»Eines Tages wird es wieder Sonnenschein für euch geben«, versuchte Alika die Mädchen zu trösten.
Trudi blickte sie mit zornerfüllter Miene an. »Nicht, solange der Mörder meines Vaters frei herumlaufen und den Herrgott im Himmel verhöhnen kann.«
Hatte Alika eben noch geglaubt, der Einklang zwischen Mutter und Schwestern würde die meisten Schwierigkeiten überwinden helfen, so sah sie nun noch schwärzere Wolken am Horizont auftauchen. Sie kannte Trudis Starrsinn, und der Hass, den das Mädchen gegen den Mörder ihres Vaters hegte, war so stark, dass er Trudi zerstören konnte. So blieb ihr nur zu hoffen, dass der Mann rechtzeitig
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