Die Tochter des Fotografen
den kaum verhohlenen Zorn in ihrer Stimme, aber er war selbst so wütend, daß es ihm egal, ja, daß er sogar froh war, sie zu verärgern. Immerhin hatte sie über seine Arbeit Bescheid gewußt, als sie ihn geheiratet hatte. Bevor er aufhängte, waren sie in ein langes, eisiges Schweigen verfallen.
Der Terrazzoboden hatte einen schwach rötlichen Schimmer, und die Schließfächer, die die Wände säumten, waren dunkelblau. David lauschte und hörte einen Moment lang nur seinen eigenen Atem, bevor ihn plötzlicher Applaus die Halle hinunter, zu den großen hölzernen Türen des Auditoriums führte. Er zog einen Flügel auf, trat ein und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Zuschauerraum war übervoll; ein Meer aus dunklen Köpfen reichte hinunter bis zur hell erleuchteten Bühne. Er durchforschte die Reihen nach Norah. Eine junge Frau gab ihm ein Programmheft, während ein Junge in tiefhängenden Jeans die Bühne betrat und mit seinem Saxophon Platz nahm. Sie deutete auf den fünften Namen im Programm.
|253| David atmete erleichtert auf. Seine Anspannung wich. Paul war Nummer sieben; er hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft.
Der Saxophonist begann leidenschaftlich und mit großer Heftigkeit zu spielen. Allerdings traf er einen falschen Ton, dessen schrilles Kreischen David einen Schauer über den Rücken jagte. Wieder hielt er nach Norah Ausschau und fand sie schließlich in der Mitte, nahe der Bühne, einen leeren Sitz neben sich. Also hatte sie wenigstens an ihn gedacht. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sie das tun würde; er war sich überhaupt keiner Sache mehr sicher. Seine Wut und seine Schuld, derentwegen er zu den Geschehnissen in Aruba geschwiegen hatte, waren die einzigen Gefühle, über die er sich im klaren war; dies alles stand sicherlich zwischen ihnen. Aber er hatte nicht die leiseste Vorstellung davon, was Norah fühlte, noch kannte er ihre Sehnsüchte oder Motive. Der Saxophonist beendete seine Darbietung mit einem lauten Stoß in sein Instrument und verbeugte sich. Während alles klatschte, eilte David den Gang hinunter und kletterte ungelenk an den Zuhörern vorbei, um seinen Platz neben Norah einzunehmen.
»David«, sie nahm ihren Mantel vom Sitz. »Also hast du es doch noch geschafft.«
»Es war ein Notfall, Norah«, erwiderte er genervt.
»Oh, ich weiß, ich bin ja daran gewöhnt. Nur für Paul hat es mir leid getan.«
»Auch ich mache mir Gedanken um Paul«, erklärte er trotzig, »deswegen bin ich hier.«
»Ja, natürlich«, antwortete sie schneidend, »deswegen bist du hier.«
Er konnte ihren Zorn fast greifen. Ihr blondes Haar war kurz und perfekt frisiert, und alles an ihr schimmerte in Creme- und Goldtönen. Sie trug ein Kostüm aus Naturseide, das sie auf ihrer ersten Reise nach Singapur gekauft hatte. Je mehr das Geschäft expandiert war, desto öfter hatte sie ihre Reisegruppen begleitet; zu banalen Zielen, aber auch an |254| exotische Orte. Zu Beginn, als ihre Reisen noch kürzer und weniger ambitioniert gewesen waren und zum Mammoth-Cave-Nationalpark führten oder an den Mississippi, war David ein paarmal mitgekommen. Dann hatte er sich immer über Norah gewundert, genauer gesagt, über die Person, die sie geworden war. Die Leute kamen mit all ihren Sorgen und Problemen zu ihr: Mal war das Rindfleisch zu kurz gebraten, mal die Kabine zu klein, die Klimaanlage kaputt oder die Betten zu hart. Aufmerksam hörte sie ihren Kunden zu, bewahrte in jeder Situation die Ruhe, nickte, klopfte jemandem beruhigend auf die Schulter und griff nach dem Telefon. Obwohl ihre Züge eine gewisse Härte bekommen hatten, war sie immer noch sehr schön. Sie machte ihre Arbeit gut, und nicht nur eine blauhaarige alte Dame hatte ihn schon zur Seite genommen, um ihm zu versichern, daß er sich sehr glücklich schätzen konnte.
Er hatte sich überlegt, was diese Damen wohl gesagt hätten, wenn sie die abgelegten Kleider am Strand gefunden hätten.
»Du darfst nicht wütend auf mich sein, Norah«, flüsterte David ihr zu. Ein schwacher Duft von Orangen umgab sie, und ihre Lippen waren fest zusammengepreßt. Auf der Bühne setzte sich gerade ein junger Mann ans Klavier. Er trug einen blauen Anzug und dehnte seine Finger, bevor er kräftig in die Tasten griff. »Du hast kein Recht dazu«, setzte er bestimmt nach.
»Ich bin nicht wütend, nur nervös, wegen Paul. Du bist derjenige, der hier wütend ist.«
»Nein, du bist wütend auf mich. Seit wir in Aruba waren,
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