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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Haut, die Muskelschichten darunter und zuletzt die Knochen. Das Brustbein, Sternum – sie erinnerte sich an den Begriff von damals, als sie sich etwas über Knochen angelesen hatte, um David und seine Arbeit besser verstehen zu können. Es bestand aus dem Manubrium und dem Schwertfortsatz, die echten Rippen und die falschen schlossen über den Rippenbogen daran an.
    Sacht umschloß er ihr Gesicht mit seinen Händen. Sie ließ ihre Hand sinken. Ohne ein Wort zu sprechen, gingen sie zusammen auf das kleine Häuschen zu. Ihre Kleider ließ sie auf dem Sand zurück; es kümmerte sie nicht, daß jemand sie entdecken konnte. Die Dielen der Veranda gaben unter ihren Tritten leicht nach. Der Verdunklungsstoff über der Camera obscura war zurückgeschlagen, und sie sah mit Befriedigung, daß Howard zwar den Strand und den Horizont, die zerstreuten Felsen und Bäume als perfekte Reproduktion der Wirklichkeit gezeichnet hatte und daß er ihr Haar noch als weiche, dunkle, irgendwie formlose Wolke skizziert hatte, aber zu mehr war er nicht gekommen. Der Platz, an dem sie gestanden hatte, war leer. Wie Blätter waren ihre Hüllen gefallen, und er hatte aufgeblickt und sie dort stehen sehen.
    Dies eine Mal hatte sie die Zeit angehalten.
    Nach dem gleißenden Licht des Strandes wirkte das Zimmer dämmrig, und das Fenster rahmte die Welt draußen auf die gleiche Weise ein, wie es die Linse der Camera obscura tat. Was sie erblickte, war so strahlend und lebendig, daß es |250| ihr Tränen in die Augen trieb. Sie setzte sich auf die Bettkante. »Leg dich hin«, forderte er sie auf, während er sein Hemd über den Kopf streifte. »Ich möchte dich einen Moment betrachten.« Sie folgte seiner Aufforderung, und er beugte sich über sie und ließ seine Augen über ihre Haut wandern. »Bleib bei mir.« Als er sich hinkniete und seinen Kopf auf ihren Bauch legte, erschrak sie; die Bartstoppeln seiner unrasierten Wange kratzten auf ihrer glatten Haut. Bei jedem Atemzug spürte sie sein Gewicht, und wenn er ausatmete, strich die Luft über ihre Haut. Sie fuhr mit der Hand durch sein schütteres Haar und zog ihn nach oben, damit er sie küßte.
    Später würde sie sich nicht darüber wundern, was sie bis dahin getan hatte oder was noch folgte, sondern daß alles auf Howards Bett geschehen war, neben dem offenen Fenster, das sie, gerahmt wie ein Bild in der Lochbildkamera, präsentierte. Auch wenn David und Paul zum Fischen aufs Meer hinausgefahren waren, hätte trotzdem irgend jemand vorbeikommen und sie sehen können.
    Dennoch hörte sie nicht auf – weder jetzt noch später. Sie waren wie im Fieber, handelten wie unter Zwang. Er öffnete ihr die Tür zu ihren eigenen Wünschen, zur Freiheit. Seltsamerweise machte ihr Geheimnis auch die Entfremdung zwischen ihr und David erträglicher. Sie ging immer wieder zu ihm, selbst als David bemerkte, daß sie erstaunlich viele und weite Spaziergänge unternahm. Auch nachdem sie in seinen Shorts ein Foto von seiner lächelnden Frau und seinen drei kleinen Kindern gefunden hatte, zusammen mit einem Brief, in dem geschrieben stand: »Meiner Mutter geht es besser, wir alle lieben und vermissen Dich und freuen uns auf Dein Kommen«, ging sie wieder zu ihm.
    Brief und Fotos hatte sie eines Nachmittags entdeckt, als das Sonnenlicht auf dem Wasser tanzte und die Hitze schimmernd vom Sand aufstieg. Während im dämmrigen Zimmer der Ventilator klapperte, hatte sie das Foto in der Hand gehalten und hinausgestarrt, versunken in die Phantasielandschaft, |251| in ihr strahlendes Licht. In ihrem wirklichen Leben hätte dieses Foto sie getroffen, schnell und sicher wie ein Messer. Hier empfand sie nichts. Norah hatte das Foto zurückgesteckt und seine Shorts wieder auf den Boden gleiten lassen. Hier war das nicht wichtig. Hier zählten nur der Traum und das fiebrige Licht. Sie traf ihn an den kommenden zehn Tagen.

|252| 12. Kapitel
    August 1977
    D AVID RANNTE DIE TREPPE HOCH UND BETRAT DIE ruhige Eingangshalle der Schule. Hier hielt er einen Moment inne, um sich zu orientieren und Atem zu schöpfen. Er war zu spät zu Pauls Konzert gekommen, viel zu spät. Eigentlich hatte er das Krankenhaus früh verlassen wollen, aber er war gerade an der Tür, da kamen die Sanitäter mit einem älteren Ehepaar herein: Der Mann war von einer Leiter gefallen und auf seine Frau gestürzt. Er hatte sich das Bein gebrochen, seiner Frau den Arm; das Bein brauchte eine Platte und mußte genagelt werden. David rief Norah an und hörte

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