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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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fühlte sie, wie Howards Hand sich langsam öffnete.
    »Ja, das ist wahr«, sagte Howard leichthin, mit dunkler Stimme. »Ihre Bilder würden etwas von ihrer Klarheit verlieren, wenn Sie diesen Filter einsetzen würden. Der Effekt aber wäre es sicher wert.«
    Während Norah ganz langsam ausatmete, überlegte sie, ob Howard das wilde Pulsieren ihres Blutes spüren konnte. Seine Finger schienen zu glühen; in ihr war ein so großes Verlangen entfacht, daß es sie schmerzte. Die Wellen stiegen an, brachen und zogen sich leise zurück, bevor sie wiederkamen. Norah blieb regungslos stehen und lauschte ihrem eigenen Atem.
    »Mit der Camera obscura ist man näher an der Welt dran«, |245| sagte Howard. »Die Art, wie sie sie einfängt, ist wirklich sehr bemerkenswert. Kommen Sie doch mal vorbei, um sich das anzusehen.«
    »Morgen gehe ich mit Paul fischen«, überlegte David. »Vielleicht übermorgen?«
    »Ich glaube, ich gehe jetzt rein«, erklärte Norah leise.
    »Norah langweilt sich«, entschuldigte David sie.
    »Wer könnte ihr das verdenken?« sagte Howard, wobei er seine Hand, fest und schnell, einem Flügelschlag gleich, tief unten an ihren Bauch preßte. Dann ließ er sie aus ihrer Tasche gleiten. »Wenn Sie Lust haben, kommen Sie doch morgen früh«, schlug er vor. »Da mache ich ein paar Zeichnungen mit der Camera obscura.«
    Norah nickte wortlos, während sie sich vorstellte, wie der einzelne Lichtstrahl die Dunkelheit durchbohrte, um wunderbare Bilder auf die Wand zu werfen.
    Er verließ sie ein paar Minuten später und wurde fast augenblicklich von der Dunkelheit verschluckt.
    »Ich mag ihn«, sagte David, als sie wieder drinnen waren. Die Küche sah makellos aus. Alle Spuren ihres träumerischen Nachmittags waren getilgt.
    Norah stand am Fenster, sah auf den dunklen Strand hinaus und lauschte den Wellen, die Hände tief in den Taschen ihres Kleides vergraben.
    »Ja«, stimmte sie zu. »Ich auch.«
    Am nächsten Morgen standen David und Paul noch vor Anbruch der Dämmerung auf und fuhren die Küste entlang bis zu der Stelle, wo das Fischerboot wartete. Während sie sich fertig machten und sich bemühten, leise zu sein, lag Norah, das saubere Baumwollaken sanft um sich geschlungen, in der Dunkelheit und hörte sie im Wohnzimmer herumkramen. Dann vernahm sie Schritte und, nachdem das Dröhnen des startenden Motors verklungen war, wieder das Rauschen der Wellen. Als dort, wo Himmel und Meer sich berührten, ein heller Streifen Licht aufzog, ruhte sie matt auf den Laken. |246| Dann duschte sie, zog sich an und machte sich einen Kaffee. Nachdem sie eine halbe Grapefruit gegessen hatte, spülte sie ihr Geschirr ordentlich ab und ging aus der Tür. Sie hatte kurze Hosen und ein türkisfarbenes Hemd, das mit Flamingos bedruckt war, angezogen. Ihre weißen Turnschuhe waren zusammengebunden und baumelten an ihrer Hand. Der Seewind blies ihre frischgewaschenen Haare trocken, wobei sie sich verhedderten und an ihr Gesicht klebten.
    Howards Häuschen, das sich eineinhalb Kilometer strandabwärts befand, sah fast genauso aus wie ihres. Howard saß auf der Veranda, über eine dunkel lackierte Holzkiste gebeugt. Er trug weiße Shorts und ein orange kariertes Madras-Hemd, das nicht zugeknöpft war. Auch er war barfuß. Als sie näher kam, stand er auf.
    »Möchten Sie einen Kaffee?« rief er. »Ich habe Sie den Strand entlangkommen sehen.«
    »Danke, nein«, wehrte sie ab.
    »Sicher nicht? Ich habe Irish Coffee gemacht. Mit Schuß.«
    »Vielleicht ein bißchen später.« Sie schritt die Treppe hoch und ließ ihre Hand über die polierte Mahagonikiste gleiten. »Ist das die Camera obscura?«
    »Ja«, nickte er. »Kommen Sie. Sehen Sie mal durch.«
    Sie setzte sich auf den Stuhl, der noch seine Wärme trug, und blickte durch die Öffnung. Sie sah alles vor sich: den langen Strandabschnitt, die Felsgruppe und ein Segel, das langsam über den Horizont wanderte. In den Zweigen der den Kiefern ähnlichen Känguruhbäume wohnte der Wind. Alles war winzig und wurde bis ins letzte Detail genau wiedergegeben, und obwohl der Ausschnitt gerahmt und begrenzt wurde, war er lebendig, nicht statisch. Norah sah blinzelnd auf und fand auch die Welt verändert vor. Die Blumen zeichneten sich scharf vom Sand ab. Der Stuhl mit seinen leuchtenden Streifen und das am Wasser entlanglaufende Paar erschienenen ihr erstaunlich lebendig, viel lebendiger als zuvor.
    »Oh«, entfuhr es ihr, als sie wieder in die Kiste sah. »Es ist |247| überwältigend.

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