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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Saiten. Wo war das tollpatschige Kleinkind, das sich die Schuhe von den Füßen gezogen hatte, um auszuprobieren, ob man sie essen konnte? Wo steckte der kleine Junge, der auf Bäume geklettert war und freihändig auf seinem Fahrrad gefahren war? Unversehens war aus dem süßen kleinen Draufgänger dieser junge Mann geworden. In diesem Moment überwältigte ihn die Liebe zu seinem Sohn. Sein Herz schlug so schnell, daß er fast fürchtete, er würde einen Herzinfarkt erleiden – zwar war er mit seinen sechsundvierzig Jahren eigentlich zu jung dafür, aber das Risiko eines Infarktes bestand immer.
    Vorsichtig und sehr langsam entspannte er sich, ließ sich mit geschlossenen Augen in die Dunkelheit gleiten und von der Musik wegtragen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und sein Hals schmerzte. Er dachte an die klare, schöne Stimme seiner Schwester June, wenn sie auf der Veranda gestanden und gesungen hatte. Bei ihr hatte Musik wie eine silbrige fremde Sprache geklungen, die ihr in die Wiege gelegt worden zu sein schien, genau wie bei Paul. Ein Gefühl des Verlustes, |260| das sich aus so vielen Erinnerungen nährte, erschütterte ihn: Er hatte Junes Stimme im Ohr, sah, wie Paul die Tür hinter sich zuschlug, blickte auf Norahs verstreute Kleider am Strand und sah sich schließlich seine neugeborene Tochter in Caroline Gills wartende Hände legen.
    Es war zuviel. David war kurz davor zu weinen. Er schlug die Augen auf und zwang sich, das Periodensystem durchzugehen – Wasserstoff, Helium, Lithium. Er drängte alles zurück: June, die Musik, die starke Liebe zu seinem Sohn. Pauls Finger kamen zum Stehen, und er ließ sie auf der Gitarre ruhen. David entzog Norah seine Hand und klatschte heftig.
    »Geht es dir gut?« erkundigte sie sich und blickte ihn kurz an. »David, ist alles in Ordnung?«
    Er nickte nur, weil er sich noch immer nicht zutraute zu sprechen.
    »Er ist gut«, stieß er endlich hervor. »Wirklich gut.«
    »Ja.« Sie nickte. »Deshalb möchte er auch auf die Juilliard gehen.« Sie klatschte immer noch, und als Paul in ihre Richtung sah, warf sie ihm einen Handkuß zu. »Wäre es nicht wundervoll, wenn das klappte? Er hat noch ein paar Jahre Zeit, um zu üben, und wenn er alles daransetzt – wer weiß, was aus ihm werden kann?«
    Paul verneigte sich und verließ die Bühne mit der Gitarre in der Hand. Der Applaus ließ nicht nach.
    »Wenn er alles daransetzt«, wiederholte David nachdenklich. »Und was, wenn nichts daraus wird?«
    »Was, wenn doch?«
    »Ich weiß nicht«, erwiderte David langsam. »Ich denke nur, daß er noch zu jung ist, um sich anderer Möglichkeiten zu berauben.«
    »Er ist so begabt. Du hast es selbst gehört. Das könnte doch
die
Chance sein.«
    »Aber er ist erst dreizehn.«
    »Ja, und er liebt Musik. Er sagt, er lebte auf, wenn er Gitarre spielt.«
    |261| »Aber – es ist ein so unvorhersehbarer Lebensweg. Wird er sich mit seiner Musik ernähren können?«
    Norah wurde sehr ernst. Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich auch nicht, aber wie heißt es so schön: ›Tu, was du liebst, dann wird das Geld dir folgen.‹ Laß ihm seinen Traum.«
    »Das werde ich«, gab David nach, »obwohl ich mir Sorgen mache. Ich wünsche ihm ein sicheres Leben, und bis er auf ein Konservatorium gehen kann, vergeht noch viel Zeit, wie gut er auch sein mag. Ich will nicht, daß er enttäuscht wird.«
    Norah wollte gerade etwas erwidern, als das Gemurmel plötzlich verstummte, da eine junge Geigerin in einem dunkelroten Kleid erschienen war, und beide wandten sich wieder der Bühne zu.
    Obwohl David der jungen Frau zuhörte und auch alle folgenden Auftritte aufmerksam verfolgte, ließ ihn Pauls Musik nicht los. Als das Konzert vorüber war, machten sich Norah und er auf den Weg zum Foyer, wobei sie alle paar Meter von Leuten, die ihnen die Hände schüttelten und ihren Sohn lobten, aufgehalten wurden. Als Paul endlich in Sichtweite rückte, drängte Norah sich durch die Menge und umarmte ihn, worauf ihr Paul verlegen auf den Rücken klopfte. David, der Paul dabei ansah, mußte grinsen, und zu seiner Überraschung verzog sich auch Pauls Mund zu einem Lächeln. Doch schon ein paar Sekunden später faßte sich Paul, machte sich von Norah los und trat zurück.
    »Du warst klasse«, lobte ihn David. Während er Paul umarmte, bemerkte er die Spannung in dessen Schultern, und ihm fiel auf, wie steif und distanziert seine Körperhaltung war. »Sohn, du warst einfach großartig.«
    »Danke. Ich war

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