Die Tochter des Fotografen
Alles sieht so präzise und prachtvoll aus. Ich sehe sogar den Wind in den Bäumen.«
Howard lachte. »Ist das nicht wundervoll? Ich wußte, daß es Ihnen gefallen würde.«
Sie dachte an Paul, der seinen Mund als kleines Kind immer zu einem perfekten »O« gerundet hatte, wenn er aus seinem Gitterbettchen heraus irgend etwas Alltägliches angestarrt hatte, was für ihn verblüffend war. Wieder beugte sie ihren Kopf, um die eingefangene Welt zu betrachten und sie beim Aufblicken verändert vorzufinden. Von seinem Rahmen aus Dunkelheit befreit, schimmerte selbst das Licht, als wäre es lebendig. »Das ist unglaublich schön«, flüsterte sie. »So schön, daß ich es fast nicht ertragen kann.«
»Ich weiß«, erwiderte Howard. »Steigen Sie hinein, und lassen Sie sich malen.«
Sie erhob sich und lief auf den heißen Sand und in das gleißende Licht hinaus. Dann drehte sie sich um, und während sie vor Howard stand, der seinen Kopf über den Apparat gebeugt hielt, verfolgte sie die Bewegungen seiner Hand auf dem Skizzenblock. Ihr Haar glühte, und sie erinnerte sich daran, wie sie in den letzten Tagen Modell gestanden hatte. Wie oft hatte sie schon so dagestanden, zugleich Subjekt und Objekt, hatte Posen eingenommen, um etwas heraufzubeschwören oder zu konservieren, was in Wirklichkeit gar nicht existierte, während sie ihre wahren Gedanken verbarg.
So stand sie jetzt wieder da, eine Frau, die auf eine perfekte Miniatur ihrer selbst reduziert wurde, während ihr Körper vom Licht auf einen Spiegel geworfen wurde. Der warme, feuchte Seewind fuhr ihr durchs Haar, und Howards Hände mit den langen Fingern und den kurzen Nägeln glitten schnell über das Blatt, als er sie skizzierte. Sie dachte daran, wie sich der Sand unter ihr verschoben hatte, als sie für David posierte, und wie er und Howard später von ihr geredet hatten. In ihrem Gespräch war sie keine Frau aus Fleisch und Blut gewesen, sondern eher ein Abbild oder eine Form. Als |248| sie sich das ins Gedächtnis zurückgerufen hatte, fühlte sich ihr Körper auf einmal zerbrechlich an, als wäre sie nicht mehr die fähige, selbständige Frau, die eine Reisegruppe wohlbehalten durch China gelotst hatte, sondern jemand, den die nächste Windböe wegfegen könnte. Dann war da wieder Howards Hand, die nicht nur ihre Rocktasche, sondern auch ihre Haut darunter erhitzt hatte. Sie bewegte sich geschickt, diese Hand, und zeichnete sie.
Sie faßte sich an die Taille und ergriff den Saum ihrer Bluse. Langsam, aber ohne zu zögern, zog sie sie über den Kopf und ließ sie auf den Sand fallen. Howard hörte auf zu zeichnen, ohne den Kopf zu heben. Die Muskeln in seinem Arm und seiner Schulter erstarrten. Norah öffnete den Reißverschluß ihrer Shorts. Sie glitten über ihre Hüften, und Norah trat aus dem Stoffbündel zu ihren Füßen heraus. Bis jetzt war daran nichts Ungewöhnliches. Sie stand in dem Bikini da, den sie schon so oft beim Modellstehen getragen hatte. Jetzt aber griff sie nach hinten und hakte die Träger des Tops auf. Dann streifte sie die Hose über ihre Beine und schleuderte sie mit einem Tritt weg. Sonne und Wind spielten auf ihrer nackten Haut.
Langsam hob Howard den Kopf von der Camera obscura, dann starrte er sie an. Einen Moment war ihr, als befände sie sich in einem Alptraum. Ein Gefühl von Panik und Scham überkam sie, das sie aus Träumen kannte, in denen sie einkaufen oder in einem überfüllten Park spazierenging und plötzlich merkte, daß sie vergessen hatte, sich anzuziehen. Sie wollte gerade ihren Bikini aufheben, als Howard flüsterte:
»Nein, bitte nicht.« Sie hielt inne und richtete sich auf. »Du bist so schön.«
Dann erhob er sich vorsichtig und langsam, als wäre sie ein Vogel, den er aufschrecken könnte. Norah aber stand sehr still und lauschte aufmerksam in ihren Körper hinein. Sie fühlte sich, als sei sie aus Sand; aus Sand, der vom Feuer geschmolzen wird. Howard überquerte die wenigen Meter Strand, die |249| zwischen ihnen lagen. Es schien, als würde er ewig dafür brauchen. Als er sie endlich erreichte, berührte er sie nicht, sondern starrte sie nur an. Der Wind bewegte ihre Haare, und er nahm eine Strähne von ihrer Lippe und strich sie sehr sanft hinter ihr Ohr.
»Nie könnte ich das einfangen«, erklärte er. »Was du in diesem Moment bist, läßt sich nicht festhalten.«
Norah lächelte und spreizte ihre Hand flach auf seiner Brust. Sie erfühlte die dünne indische Baumwolle seines Hemdes, seine warme
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