Die Tochter des Fotografen
letzter Zeit. Was David auch tat, er konnte es ihm nicht recht machen, und am schlimmsten waren die Gespräche mit Paul über seine Zukunft. Dabei hatte er die besten Aussichten. Er war ein guter Sportler und hatte ein musikalisches Talent, und alle Möglichkeiten standen ihm offen. David dachte oft, daß sein eigenes Leben – mit den schwierigen Entscheidungen, die er getroffen hatte – einen Sinn hätte, wenn Paul sein Potential nur nutzen würde. Ständig quälte ihn die Sorge, daß er irgendwie bei seinem Sohn versagt hätte; daß Paul seine ganze Begabung wegwerfen würde. Noch einmal klopfte er leise an die Tür und ging, als Paul nicht reagierte, schließlich in die Küche zurück. Er bemerkte die Schale mit den Orangen auf dem Küchentresen und bewunderte die Rundungen der Früchte und das dunkle Holz. Einem Impuls folgend, den er sich selbst nicht erklären konnte, trat er nach draußen und begann den Strand entlangzulaufen. Er hatte fast zwei Kilometer zurückgelegt, als er das leuchtende Flattern von Norahs Hemd erspähte. Aus der Nähe sah er, daß es tatsächlich ihre Kleider waren, die da vor der Tür des Häuschens, in dem Howard wohnen mußte, am Strand lagen. David blieb verwirrt im gleißenden Licht der Sonne stehen. Waren sie am Ende schwimmen gegangen? Er suchte das Meer ab, ohne sie zu sehen, und ging dann weiter, bis Norahs vertrautes, dunkles und melodisches Lachen aus dem Häuschen drang und ihn zurückhielt. Auch Howard hörte er lachen. Es klang wie ein Echo von Norahs Lachen. Da endlich wußte er Bescheid, und ein Schmerz, so sengend wie der Sand unter seinen Füßen, durchfuhr ihn.
|258| Er sah Howard vor sich, wie er letzte Nacht in ihrem Eßzimmer gestanden und ihm nüchterne Ratschläge zur Fotografie gegeben hatte. Howard mit seinem dünnen Haar und seinen Sandalen – wie konnte sie nur?
Und doch hatte er diesen Moment erwartet, schon seit Jahren. Wieder holte ihn die sichere Ahnung ein, daß jene weiße Nacht, in der er ihre Tochter Caroline Gill anvertraut hatte, nicht folgenlos verstrichen war. Das Leben war weitergegangen, äußerlich schien er es gemeistert zu haben. Doch er hatte ihre Tochter weggegeben. Dieses Geheimnis bildete den verborgenen Kern ihrer Familie und bestimmte ihr Zusammenleben. Für ihn war es sichtbar, und obwohl Norah und Paul es nur spürten, wußten sie, daß etwas zwischen ihnen stand, das sie weder sehen noch überwinden konnten.
Duke Madison beendete seinen Vortrag mit einer verspielten Variation, stand auf und verbeugte sich. Norah, die heftig klatschte, drehte sich zu der Familie hinter ihnen um.
»Er war großartig«, lobte sie. »Duke ist unglaublich talentiert.«
Dann erlosch der Beifall, und die Bühne war leer. Die Zeit verstrich, ohne daß etwas passierte, und das Publikum begann zu murmeln.
»Wo bleibt er nur?« fragte David und sah in sein Programm. »Wo steckt Paul?«
»Keine Sorge, er ist hier«, beschwichtigte ihn Norah, und zu seiner Überraschung nahm sie seine Hand. Sie fühlte sich kühl an, und ein unbeschreibliches Gefühl der Erleichterung überkam ihn, das ihm einen Moment lang vorgaukelte, daß sich nichts zwischen ihnen geändert hatte und nichts zwischen ihnen stand. »Er wird bald herauskommen.«
Während sie noch sprach, ging ein Raunen durch die Menge, und Paul trat auf die Bühne. David musterte ihn: Groß und schlaksig, mit einem sauberen weißen Hemd, dessen Ärmel er hochgerollt hatte, stand er da und warf dem Publikum ein schiefes Lächeln zu. Für einen Augenblick war |259| David erstaunt. Wie war es möglich, daß Paul sich in diesem abgedunkelten Saal voller Selbstvertrauen und mit solcher Leichtigkeit vor all diesen Menschen präsentierte? David hätte nicht mit ihm tauschen wollen, und Pauls Auftritt machte ihn ungeheuer nervös. Was würde geschehen, wenn er vor all den vielen Zuschauern scheiterte? Norahs Hand lag immer noch in seiner, als Paul sich über seine Gitarre beugte, ein paar Noten anstimmte und schließlich zu spielen begann.
David erkannte, daß er Segovia spielte. Im Programmheft waren zwei kurze Stücke, »Estudio« und »Estudio Sin Luz«, angekündigt. Er kannte die zarten Melodien dieser Lieder fast auswendig, so oft hatte er sie seinen Sohn schon spielen hören. Während des gesamten Urlaubes in Aruba war diese Musik mal schneller, mal langsamer aus seinem Zimmer gedrungen, manche Takte in endlosen Wiederholungen. Pauls lange und geschickte Finger liefen mit großer Sicherheit über die
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