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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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um deine Mutter und mich keine Sorgen zu machen. Das ist nicht deine Aufgabe. Du mußt deinen Weg finden und deine Begabungen nutzen. Und du darfst sie nicht nur für dich selbst, sondern mußt sie auch für andere Menschen einsetzen. Du mußt etwas zurückgeben. Deshalb bin ich Arzt geworden.«
    |267| »Ich liebe die Musik«, sagte Paul. »Wenn ich spiele, fühle ich, daß ich das tue – etwas zurückgeben.«
    »Und das tust du auch. Ganz sicher. Aber, Paul, was wäre, wenn es dir bestimmt ist, ein neues Element in diesem Universum zu entdecken, oder wenn du eine Heilmethode für eine seltene, schreckliche Krankheit entwickeln könntest?«
    »Das sind deine Träume«, sagte Paul leise, »nicht meine.«
    David schwieg. Ihm wurde bewußt, daß seine Träume früher tatsächlich so ausgesehen hatten. Er war ausgezogen, die Welt in Ordnung zu bringen, sie zu ändern und zu formen. Statt dessen fuhr er nun mit seinem fast erwachsenen Sohn im Mondschein spazieren, während ihm sein eigenes Leben entglitt.
    »Ja, das stimmt«, gab er zu. »Das habe ich mir damals erträumt.«
    »Was wäre, wenn ich der nächste Segovia sein könnte?« fragte Paul nun sanft. »Denk nur, Papa. Was, wenn ich so ein Talent hätte und es nicht nutzen würde?«
    David antwortete nicht. Er hatte ihre Straße schon wieder erreicht, und diesmal bog er ab, um nach Hause zu fahren. Vor der Garage schaltete David das Auto aus, und für wenige Sekunden blieben sie unbeweglich darin sitzen.
    »Es ist nicht wahr, daß mir alles gleichgültig ist«, nahm David das Gespräch wieder auf. »Komm, ich will dir etwas zeigen.«
    Er führte Paul in die Dunkelkammer über der Garage. Paul stand mit verschränkten Armen nahe der Tür und wirkte ungeduldig, während David den Entwicklungsprozeß in Gang setzte, indem er die Chemikalien in die Wannen goß und das Negativ in den Vergrößerungsapparat legte.
    Dann rief er Paul zu sich.
    »Sieh dir das an«, forderte er ihn auf. »Was, glaubst du, ist das?«
    Nach kurzem Zögern antwortete Paul. »Ein Baum? Es sieht wie die Silhouette eines Baumes aus.«
    |268| »Gut«, ermunterte ihn David. »Nun sieh noch einmal hin. Ich habe das Foto während einer Operation aufgenommen. Kannst du erkennen, was es eigentlich ist?«
    »Ich weiß nicht – ein Herz?«
    »Ein Herz. Genau. Ist das nicht verblüffend? Ich arbeite an einer ganzen Serie, die mit der Wahrnehmung spielt. Es sind Bilder von Körperteilen, die aussehen, als seien sie etwas anderes. Manchmal denke ich, daß in jedem Menschen die ganze Welt angelegt ist. Dieses Wunder – und das Wunder der Wahrnehmung –, das ist es, was mich beschäftigt. Deshalb verstehe ich, was du über die Musik gesagt hast.«
    David schickte gebündeltes Licht durch den Vergrößerungsapparat und ließ das Papier dann in das Entwicklerbad gleiten. Er spürte Pauls Anwesenheit in der Dunkelheit und Stille ganz intensiv.
    »In der Fotografie geht es ausschließlich um Geheimnisse«, erklärte David nach ein paar Minuten, als er das Foto heraushob und in das Fixierbad legte. »Um die Geheimnisse, die wir alle in uns tragen und niemals aufdecken werden.«
    »So ist die Musik nicht«, warf Paul in einem Ton zurück, aus dem David Ablehnung heraushören konnte.
    Er sah auf, aber in dem schwachen roten Licht war es unmöglich, Pauls Gesichtsausdruck zu deuten. »Musik ist, als ob du den Puls des Lebens berühren würdest. Musik ist immer im Fluß, und manchmal gelingt es dir, ein Stück mitzuschwimmen, und wenn dir das gelingt, weißt du, daß alles mit allem verbunden ist.«
    Damit drehte er sich um und verließ die Dunkelkammer.
    »Paul«, rief ihm David hinterher, aber sein Sohn polterte bereits wütend die Außentreppe hinunter.
    David sah ihn im Mondschein die Hintertreppe hinaufjagen und im Inneren des Hauses verschwinden. Einen Moment später ging das Licht in seinem Zimmer an, und die präzisen Töne von Segovia schwebten klar und zart durch die Nacht.
    |269| David, der ihr Gespräch noch einmal im Geiste durchging, überlegte, ihm nachzugehen. Er hatte Verbindung zu seinem Sohn aufnehmen wollen, hatte einen Moment herbeiführen wollen, in dem sie einander verstanden. Doch seine guten Absichten hatten sich ins Gegenteil verkehrt und sie letztendlich noch weiter voneinander entfernt. Nach kurzem Zögern drehte er sich um und ging zurück in seine Dunkelkammer. Das weiche rote Licht war sehr beruhigend. Er überdachte, was er zu Paul gesagt hatte – daß die Welt aus Verborgenem, aus

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