Die Tochter des Fotografen
als harten, grellen, stechenden Schmerz. Bevor sie sich darüber klar wurde, was sie tat, verpaßte sie Paul eine Ohrfeige. Die ersten Bartstoppeln kratzten an ihrer Hand – er war ein Mann, kein Junge mehr, und sie hatte ihn geschlagen.
Er drehte sich zu ihr, geschockt, und ein roter Fleck zeichnete sich bereits auf seiner Wange ab.
»Paul«, sagte David. »Mach nicht alles noch schlimmer, als es ohnehin schon ist. Und sag nichts, was du für den Rest deines Lebens bereuen würdest.«
|394| Norahs Hand brannte noch immer – das Blut rauschte nur so durch die Adern.
»Wir gehen nach Hause«, sagte sie. »Wir werden das zu Hause klären.«
»Ich weiß nicht so recht. Eine Nacht im Gefängnis könnte ihm ganz gut tun, Norah.«
»Ich habe schon ein Kind verloren«, sagte sie und wandte sich zu ihm. »Ich werde bestimmt kein zweites verlieren.«
Nun war es David, der sprachlos war. Als hätte sie auch ihn geschlagen. Der Deckenventilator tickte, und die Drehtür rotierte in rhythmischen Stößen.
»Okay«, sagte David. »Vielleicht hast du recht. Vielleicht tust du gut daran, mir keine Beachtung zu schenken. Gott weiß, wie sehr mir all die Dinge leid tun, mit denen ich euch enttäuscht habe.«
»David?« sagte Norah, als er sich abwandte, doch er antwortete nicht. Sie sah ihm zu, wie er durch den Raum ging und in die Drehtür trat. Draußen sah man ihn noch einen Augenblick lang, einen Mann mittleren Alters mit einer dunklen Jacke, Teil der Menschenmenge, dann war er verschwunden. Der Ventilator verwirbelte Gerüche von säuerlichem Fleisch, Pommes Frites und Reinigungsmitteln.
»Ich wollte nicht …«, setzte Paul an, doch Norah hob die Hand.
»Nicht. Bitte. Ich will kein Wort mehr hören.«
Es war Bree, die beide ruhig und bestimmt zum Auto brachte. Paul roch so streng, daß sie die Fenster öffneten, und Bree fuhr los, mit ihren dünnen Fingern das Lenkrad fest im Griff. Norah brütete vor sich hin, und es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie bemerkte, daß sie die Autobahn verlassen hatten und wieder auf kleineren Straßen durch die lebhafte Frühlingslandschaft fuhren.
»Wo fährst du hin?« fragte Norah.
»Wir machen eine kleine Abenteuerreise«, sagte Bree. »Laß dich überraschen.«
|395| Norah wollte nicht auf Brees Hände schauen, die so knöchern waren und auf denen sich blaue Adern abzeichneten. Sie schielte in den Rückspiegel zu Paul. Mißmutig und blaß saß er dort, die Arme verschränkt, sichtbar erbost, sichtbar verletzt. Sie hatte einen Fehler begangen, als sie David dazwischengefunkt war und Paul geschlagen hatte; sie hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Sein wütender Blick traf ihren im Spiegel, und sie dachte zurück an seine weiche, speckige Kinderhand, die er gegen ihre Wange drückte, sein Lachen, das durch die Räume klang. Dieses Kind war ein ganz anderer Mensch gewesen. Wo war er geblieben?
»Was für eine Abenteuerreise?« fragte Paul.
»Um genau zu sein, suche ich gerade die Klosterkirche von Gethsemane.«
»Warum?« fragte Norah. »Ist sie in der Nähe?«
Bree nickte. »Müßte sie eigentlich. Ich wollte sie mir schon immer mal ansehen, und auf dem Hinweg fiel mir auf, wie nah sie ist. Ich dachte mir: an einem so herrlichen Tag, warum nicht?«
Unter dem klaren Blau des Himmels, der zum Horizont hin verblaßte, wogten die Bäume in der leichten Brise. Sie fuhren noch weitere zehn Minuten auf ein paar Nebenstraßen, bis Bree anhielt und unter ihrem Sitz wühlte.
»Ich fürchte, ich habe keine Karte dabei«, sagte sie und richtete sich auf.
»Du hast nie eine Karte dabei«, erwiderte Norah, und gleichzeitig wurde ihr klar, daß dies auf Brees ganzes Leben übertragbar war. Doch es spielte keine Rolle. Sie und David hatten zu Anfang alle möglichen Karten gehabt, und wo standen sie nun?
Bree hatte in der Nähe von zwei schlichten weißen Bauernhäusern gehalten, deren Türen verriegelt waren. Die Tabakfelder auf den abgelegenen Hügeln glänzten silbern. Es war Setzzeit. In der Ferne arbeiteten sich Traktoren durch die frisch gepflügten Felder, gefolgt von Menschen, die sich |396| bückten, um die hellgrünen Tabakpflänzchen in die dunkle Erde zu setzen. Am Ende der Straße, auf der anderen Seite des Feldes, stand im Schatten alter Ahornbäume eine kleine weiße Kirche, die von einem Beet violetter Stiefmütterchen gesäumt wurde. An die Kirche grenzte ein Friedhof an, dessen alte Grabsteine hinter einem schmiedeeisernen Tor krumm und schief aufragten. Dies
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