Die Tochter des Fotografen
bin froh, dich zu sehen«, sagte sie ruhig. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Paul. Wir alle haben uns Sorgen gemacht.«
Er schaute sie an – seine grünen Augen von Zorn und Mißtrauen überschattet. Ruckartig drehte er sich ab und blinzelte eine Träne weg. »Ich stinke.«
»Allerdings«, stimmte Norah zu.
Er ließ seine Augen durch die Eingangshalle wandern, und sein Blick blieb an Bree haften, die am Schalter stand, dann an der rotierenden Drehtür.
»Schön. Wahrscheinlich darf ich mich glücklich schätzen, daß er gar nicht erst gekommen ist.«
Er meinte David. In seiner Stimme schwangen eine ungeheure Verletztheit, ein ungeheurer Zorn mit.
»Er ist auf dem Weg«, sagte Norah und ließ ihre Stimme sachlich klingen. »Bree hat mich hierhergefahren. Oder eher geflogen.«
Sie versuchte ihm ein Lächeln abzuringen, doch er nickte nur.
»Geht es ihr gut?«
»Ja«, sagte Norah und dachte an ihr Gespräch im Auto. »Ihr geht es gut.«
Er nickte. »Gut. Gut so. Dad ist wahrscheinlich ziemlich angepißt.«
»Darauf kannst du wetten.«
»Komme ich ins Gefängnis?« Pauls Stimme war jetzt sehr weich.
Sie holte Luft. »Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht, aber ich weiß es nicht.«
|392| Sie schwiegen eine Weile. Bree sprach mit einem der Beamten, nickte, gestikulierte. Im Hintergrund kreiste die Drehtür unaufhörlich, warf Licht und Schatten zurück, spülte Fremde herein und hinaus, einen nach dem anderen, und plötzlich schritt David über den Terrazzoboden, mit quietschenden schwarzen Schuhen und einem ernsten, aber gelassenen Gesichtausdruck, der unmöglich zu deuten war. Norah war angespannt und fühlte dieselbe Anspannung bei Paul. Zu ihrer Verblüffung ging David geradewegs auf Paul zu und drückte ihn innig und stumm an sich.
»Du bist in Sicherheit«, sagte er. »Gott sei Dank.«
Sie holte tief Luft und war dankbar für diesen Augenblick. Ein Beamter mit frappierend blauen Augen, weißem Haar und Bürstenschnitt ging mit einem Aktenordner durch den Raum. Er schüttelte erst Norah die Hand, dann David, dann wandte er sich an Paul.
»Am liebsten würde ich dich in den Bau schicken«, sagte er im Plauderton. »So einen Schlauberger wie dich. Ich weiß gar nicht, wie viele von deiner Sorte ich in all den Jahren schon gesehen habe, Jungs, die meinen, daß sie richtig hart sind, die immer wieder laufengelassen werden, bis sie irgendwann wirklich Mist bauen. Dann landen sie für eine ganze Weile im Gefängnis und merken, daß sie gar nicht so hart sind. Kein bißchen hart. Es ist eine Schande. Aber deine Nachbarn scheinen zu glauben, sie täten dir einen Gefallen damit, die Sache mit dem Wagen auf sich beruhen zu lassen. Und da ich dich nicht einsperren kann, werde ich dich in die Obhut deiner Eltern entlassen.«
Paul nickte. Seine Hände zitterten; er stopfte sie in seine Taschen. Alle sahen sie dem Beamten dabei zu, wie er ein Blatt von seinem Notizblock abriß, es David reichte und langsam wieder zu seinem Schreibtisch zurückging.
»Ich habe mit den Bolands telefoniert«, erklärte David, faltete das Blatt und steckte es in seine Brusttasche. »Sie waren sehr verständnisvoll. Das hätte ganz anders ausgehen können, |393| Paul. Glaub nicht, daß du nicht jeden einzelnen Cent für die Reparatur des Wagens zurückzahlen mußt. Und glaub nicht, daß dein Leben in der nächsten Zeit besonders lustig sein wird. Treffen mit Freunden kannst du dir abschminken. Soziale Kontakte überhaupt.«
Paul nickte und schluckte.
»Aber ich muß zur Probe«, sagte er. »Ich kann doch unser Quartett nicht sausen lassen.«
»Nein«, erwiderte David. »Du kannst nicht den Wagen unserer Nachbarn stehlen und glauben, daß das Leben so weitergeht wie vorher.« Norah spürte, wie angespannt Paul neben ihr war, wie wütend. Laß es gut sein, dachte sie und sah den Muskel in Davids Kiefer zucken. Laßt es gut sein, beide. Es reicht jetzt.
»Na gut,«, sagte Paul. »Dann komme ich nicht mit nach Hause. Dann gehe ich lieber ins Gefängnis.«
»Das dürfte kein allzu großes Problem sein«, antwortete David in einem gefährlich kühlen Ton.
»Nur zu«, sagte Paul. »Ich bin nämlich Musiker. Und ich bin gut. Eher lebe ich auf der Straße, als das aufzugeben. Da krepiere ich lieber.«
Einen Herzschlag lang war es still. Als David nicht antwortete, verengten sich Pauls Augen. »Meine Schwester weiß gar nicht, wie gut sie es hat«, sagte er.
Norah, die sich bis dahin sehr still verhalten hatte, empfand diese Worte
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