Die Tochter des Fotografen
Phase?« erwiderte Norah. »Ich dachte immer, daß dein Leben so glamourös sei. Im Vergleich zu meinem jedenfalls. |389| Ich wußte nicht, daß du eine schwere Zeit durchgemacht hast, Bree. Was war passiert?«
»Es spielt keine Rolle. Die Zeiten sind vorbei. Aber auch ich habe gestern nacht wach gelegen. Mich beschleicht dasselbe Gefühl – irgend etwas verändert sich gerade. Ist schon komisch, wie die Dinge plötzlich so anders erscheinen. Heute morgen habe ich mich dabei erwischt, wie ich in das Licht schaute, das durchs Küchenfenster hereinfällt. Es warf ein langes Rechteck auf den Boden, und die Schatten neu gesprossener Blätter tanzten darin, bildeten alle möglichen Muster. So einfach und doch so schön.«
Norah sah sich Brees Profil an und dachte daran, wie sie gewesen war – unbedarft, unverfroren und selbstsicher hatte sie auf den Treppenstufen des Regierungsgebäudes gestanden. Was war von diesem Mädchen übriggeblieben? Wie war sie zu dieser mageren, entschlossenen, dieser so starken und einsamen Frau geworden?
»Ach, Bree«, war alles, was Norah schließlich herausbrachte.
»Es ist nicht mein Todesurteil, Norah.« Bree klang schroff, unbeirrt und bestimmt, als würde sie eine Liste von Außenständen verlesen. »Es ist eher ein Weckruf. Ich habe ein bißchen darüber gelesen, und meine Chancen stehen wirklich gut. Und heute morgen dachte ich daran, daß ich, wenn es schon keine Selbsthilfegruppe für Frauen wie mich gibt, selbst eine ins Leben rufe.«
Norah lächelte. »So kenne ich dich. Das sind die beruhigendsten Worte, die du mir je gesagt hast.« Schweigend fuhren sie weiter, dann fügte Norah hinzu: »Aber du hast es mir nie erzählt. All die Jahre vorher, als du unglücklich warst. Nie.«
»Stimmt«, sagte Bree. »Deswegen erzähle ich es dir jetzt.«
Norah legte die Hand auf Brees knochiges Knie und fühlte die Wärme ihrer Schwester. »Was kann ich für dich tun?«
»Dasselbe wie immer. Tag für Tag. In der Kirche stehe ich auf der Liste der Andachten, das gibt mir Kraft.«
|390| Norah sah ihre Schwester an, ihr kurzes modisches Haar, ihr scharfes Profil, und fragte sich, was sie antworten sollte. Vor gut einem Jahr hatte Bree begonnen, die Messen der kleinen Episkopalkirche nahe ihrer Wohnung zu besuchen. Norah war einmal mit ihr dorthin gegangen, doch die komplexen Rituale des Niederkniens und Stehens, des Gebets und des Schweigens hatten ihr ein Gefühl von Unbeholfenheit und mangelnder Zugehörigkeit gegeben. Sie hatte dort gesessen und den Gläubigen verstohlene Blicke zugeworfen; sie hatte sich gefragt, was diese wohl fühlten, was sie so früh aus dem Bett gescheucht und zur Kirche getrieben hatte an einem so schönen Sonntagmorgen. Es war schwierig, ein Geheimnis dahinter zu sehen, schwierig, irgend etwas anderes zu sehen als das helle Licht und eine Gruppe müder, hoffnungsvoller, pflichtbewußter Menschen. Sie war nie wieder mitgegangen, doch nun merkte sie plötzlich, daß sie unglaublich dankbar war für den unsichtbaren Trost, den ihre Schwester daraus zog.
Die Welt flog vorbei: Gras, Bäume, der Himmel. Und dann immer häufiger Gebäude. Sie hatten Louisville erreicht, und Bree ordnete sich in den tosenden Verkehr der Interstate ein, heftete sich an die Fersen der vorbeirauschenden Autos. Der Parkplatz vor der Polizeiwache stand voller Wagen und flimmerte schwach in der Mittagshitze. Sie stiegen aus und gingen den betonierten Bürgersteig entlang, der von einer Reihe kleiner, ausgedörrter Sträucher gesäumt wurde. Durch eine Drehtür traten sie in das schummrige Innere.
Paul saß vornübergebeugt auf einer Bank, die Ellenbogen hatte er auf den Knien abgestützt, seine Hände baumelten dazwischen. Norahs Herz zog sich zusammen. Sie lief am Eingangsschalter und an den Polizeibeamten vorbei und watete durch die dicke meergrüne Luft zu ihrem Sohn. Es war heiß im Raum. Ein Ventilator drehte sich kaum merklich unter den fleckigen Styroporplatten an der Decke. Sie setzte sich neben Paul auf die Bank. Er war ungeduscht, seine Haare waren fettig, und er stank nach Schweiß und Zigarettenqualm. Herbe, |391| beißende Gerüche – die Gerüche eines Mannes. Seine Finger hatten Schwielen, waren vom Gitarrespielen mit Hornhaut überzogen. Er führte nun sein eigenes, geheimes Leben. Plötzlich fühlte sie sich davon gedemütigt, daß er schon so selbständig war. Sie war seine Mutter, würde es immer sein, nur wollte er sich nicht länger von ihr bemuttern lassen.
»Ich
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