Die Tochter des Fotografen
Augen. Um ihre Tochter, die sie nie gekannt hatte. Um Brees dünne Hände. Um die unzähligen Male, die die Liebe sie alle enttäuscht hatte und sie die Liebe enttäuscht hatten. Der Kummer schien etwas Körperliches zu sein. Norah weinte sehr lange und nahm nichts mehr wahr – außer einer Art Linderung, die sie aus ihrer Kindheit noch kannte. Sie schluchzte, bis ihr der Hals weh tat, sie außer Atem und entkräftet war.
In den offenen Dachsparren nisteten Vögel: Spatzen. Als sie wieder zu sich kam, nahm Norah langsam ihre sanften Geräusche, ihr Flattern wahr. Sie kniete und stützte sich mit den Armen auf der Rücklehne der Vorbank ab. Immer noch wurden bunte Lichtstrahlen in Bündeln auf den Boden geworfen. Peinlich berührt, stand sie auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ein paar graue Federn lagen auf den gekachelten Stufen zum Altar. Als sie nach oben schaute, sah Norah einen Spatzen zaghaft mit den Flügeln schlagen, ein Schatten inmitten größerer Schatten. Über all die Jahre hatten hier so viele andere mit ihren Geheimnissen gesessen, mit |399| dunklen und freudigen, mit ihren Träumen. Sie fragte sich, ob deren unbändiger Kummer – so wie ihrer – nachgelassen hatte. Sie konnte sich nicht erklären, warum dieser Ort ihr solchen Frieden brachte, doch so war es.
Als sie blinzelnd nach draußen ins Sonnenlicht trat, saß Paul vor dem schmiedeeisernen Tor auf einem Stein. In der Ferne lief Bree durchs Gras und schwang die Schuhe hin und her.
Er nickte den verstreut stehenden Grabsteinen des Friedhofs zu. »Es tut mir leid, was ich gesagt habe. Ich habe es nicht so gemeint. Ich wollte Dad wütend machen, damit auch ich wütend sein könnte.«
»Sag das nie wieder«, sprach Norah zu ihm. »Daß dein Leben nichts wert ist. Sag das nie, nie wieder zu mir. Du darfst es nicht mal denken.«
»Ich weiß. Es tut mir wirklich leid.«
»Ich weiß, daß du wütend bist. Du hast ein Recht auf das Leben, das dir vorschwebt. Doch dein Vater sieht das richtig. Gewisse Spielregeln müssen eingehalten werden. Wenn du sie nicht befolgst, mußt du sehen, wie du zurechtkommst.«
All dies sagte sie, ohne ihn anzusehen, und als sie sich zu ihm drehte, war sie geschockt, ihn aufgelöst zu sehen, mit Tränen auf den Wangen. Der kleine Junge, der er gewesen war, war ihr also doch noch nicht völlig entrückt. Sie umarmte ihn, so fest sie konnte. Er war so groß. Ihr Kopf reichte ihm nur bis zu den Achseln.
»Ich liebe dich, verstehst du! Ich bin so froh, daß du wieder da bist. Du stinkst wirklich fürchterlich«, sagte sie noch und lachte, worauf auch Paul lachen mußte.
Sie schirmte die Augen mit ihrer Hand ab und sah über das Feld zu Bree hinüber, die näher gekommen war.
»Es ist nicht weit«, rief sie. »Wir müssen nur die Straße hier runter. Wir können es gar nicht verfehlen, sagt sie.«
Sie stiegen wieder ins Auto, wendeten und fuhren die engen Straßen zurück. Nach ein paar Kilometern waren durch die Zypressen hindurch weiße Gebäude zu erkennen. Dann |400| plötzlich stand die Klosterkirche von Gethsemane vor ihnen, mächtig, grell und schlicht vor der geschwungenen grünen Landschaft. Bree fuhr auf einen Parkplatz unter einer Reihe von raschelnden Bäumen. Als sie aus dem Wagen stiegen, begannen die Glocken zu läuten, die die Mönche zum Gebet riefen. Sie blieben stehen und lauschten dem reinen Klang, der sich in der noch reineren Luft verflüchtigte. Kühe grasten in der Nähe, und träge zogen die Wolken über sie hinweg.
»Es ist wunderschön«, sagte Bree. »Thomas Merton hat hier einmal gelebt – wußtet ihr das? Er ist nach Tibet gegangen, um den Dalai Lama zu treffen. Ich liebe die Vostellung, daß all die Mönche dort drinnen Tag für Tag dieselben Dinge tun.«
Paul hatte seine Sonnenbrille abgenommen. Seine Augen waren klar und vom selben Dunkelgrün wie ihre. Er kramte in seiner Hosentasche und holte ein paar kleine Steine heraus, die er auf dem Dach des Autos auslegte.
»Erinnerst du dich?« fragte er, als sie einen in die Hand nahm und das weiße Gestein mit dem Loch in der Mitte befühlte. »Das sind Crinoide. Von Seelilien. An dem Tag, als ich mir den Arm gebrochen habe, hat Dad mir etwas über sie erzählt. Ich bin ein bißchen spazierengegangen, während du in der Kirche warst. Sie liegen hier überall herum.«
»Das hatte ich vergessen«, sagte Norah langsam, doch dann kam es ihr blitzartig wieder in den Sinn: die Halskette, die Paul angefertigt hatte, und wie sehr
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