Die Tochter des Fotografen
sie sich gesorgt hatte, daß Paul sich in ihr verfangen und ersticken könnte.
Der Glockenklang verhallte in der kristallklaren Luft. Sie nahm einen der Steine. Er hatte die Größe eines Knopfes und lag leicht und warm in ihrer Hand. Sie entsann sich, wie David Paul hochgehoben und ihn von der Party weggetragen hatte, um seinen gebrochenen Arm einzugipsen. Wie sehr David sich darum bemüht hatte, daß es ihnen allen gutging, alles richtig zu machen. Und doch hatten sie sich alle auf irgendeine Weise immer schwergetan – als müßten sie in einem |401| seichten Gewässer schwimmen, das einst das ganze Land bedeckt hatte.
|404| 19. Kapitel
Juli 1988
D AVID HENRY SASS OBEN IN SEINEM ARBEITSZIMMER. Durch das Fenster, das von einem Schmutzfilm der letzten Jahre bedeckt und leicht verzogen war, sah er verschwommen die Straße. Er schaute einem Eichhörnchen zu, wie es eine Nuß hervorholte und den Ahornbaum hinauflief, dessen Blätter gegen das Fenster drückten. Rosemary kniete nahe der Veranda, und ihr langes Haar fiel von den Schultern, als sie sich hinunterbeugte, um die Blumenzwiebeln und einjährigen Pflanzen in die umgegrabenen Beete einzusetzen. Sie hatte den Garten verändert, indem sie Taglilien und Kapuzinerkresse aus ihrer Freunde Gärten mitgebracht und Flachs an der Garage gepflanzt hatte, der dort in sattem Hellblau wie ein Teppich blühte. Jack saß mit einer eigenen Plastikschaufel vergnügt neben ihr und sammelte auf dem Rasen und auf dem Bürgersteig in kleinen Häufchen Dreck. Mit seinen mittlerweile fünf Jahren war er ein kräftiger, fröhlicher und wohlgeratener Junge mit dunkelbraunen Augen und einer leicht rötlichen Spur in seinem blonden Schopf. Er hatte störrisches Haar. Am Abend, wenn David auf ihn aufpaßte, während Rosemary bei der Arbeit war, bestand Jack immer darauf, alles selbst zu machen. »Ich bin schon groß«, verkündete er mehrfach am Tag stolz und wichtig.
Bei David konnte er tun und lassen, was er wollte, solange Sicherheit und Vernunft gewährleistet waren. Die Wahrheit war: David liebte es, auf Jack aufzupassen. Er liebte es, Jack Geschichten vorzulesen, das Gewicht und die Wärme seines Körpers zu fühlen, zu spüren, wie sein Kopf an seine Schulter niedersank, wenn er in den Schlaf fiel. Er liebte es, seine |405| kleine, ihm vertrauende Hand zu halten, wenn sie auf dem Bürgersteig zum Supermarkt liefen. Es tat David weh, daß die Erinnerungen an Paul in diesem Alter so dürftig, so flüchtig waren. Sicher, er hatte zu dieser Zeit seine Karriere auf den Weg gebracht, war mit der Klinik und auch der Fotografie beschäftigt gewesen, doch im Grunde waren es die Schuldgefühle gewesen, die ihn auf Distanz gehalten hatten. Sein Lebensentwurf lag plötzlich schmerzlich offen vor ihm. Er hatte ihre Tochter an Caroline Gill gegeben, und das Geheimnis hatte Wurzeln geschlagen, war emporgewachsen und hatte die Familie überwuchert. Jahrelang war er zu Norah nach Hause gekommen und hatte sich gedacht, wie bezaubernd sie war, während sie Drinks zubereitete oder sich eine Schürze umband, und wie wenig er sie kannte.
Nie hatte er es geschafft, ihr die Wahrheit zu sagen, weil er wußte, daß er sie – und vielleicht auch Paul – damit für immer verlieren würde. So hatte er sich der Arbeit hingegeben, und in den Bereichen seines Lebens, die er kontrollieren konnte, war er sehr erfolgreich gewesen. Doch was Pauls Kindheit anbetraf, erinnerte er sich traurigerweise nur noch an einige wenige losgelöste Momente, die die Klarheit von Fotos besaßen: Paul, wie er auf dem Sofa schläft, eine Hand herunterbaumelnd, sein dunkles Haar zerzaust. Paul, wie er in der Brandung steht und vor Angst und Vergnügen schreit, während das Wasser um seine Knie rauscht. Paul, wie er an dem kleinen Tisch im Kinderzimmer sitzt und mit ernster Miene so hingebungsvoll malt, daß er David gar nicht wahrnimmt, der im Türrahmen steht und ihm zuschaut. Paul, wie er die Angelrute ins unbewegte Wasser hinauswirft, stillhält, kaum atmet, während sie in der Morgendämmerung darauf warten, daß etwas anbeißt.
Knappe Erinnerungen – so schön, daß sie kaum auszuhalten waren. Dann kamen die Jugendjahre, als Paul sogar noch weiter auf Distanz ging als Norah, das Haus mit seiner Musik und seiner Wut zum Erzittern brachte.
|406| David tippte ans Fenster und winkte Jack und Rosemary. Er hatte dieses Zweifamilienhaus in großer Hast gekauft, es sich nur einmal angesehen und war dann nach Hause gefahren, um
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