Die Tochter des Fotografen
zu packen, während Norah noch bei der Arbeit war. Es war ein altes zweistöckiges Haus, dessen einst großzügige Räume genau in der Mitte durch dünne Wände geteilt waren. Sogar das Treppenhaus, das breit und elegant gewesen war, war genau mittig getrennt worden. David hatte sich die größere Wohnung genommen und die Schlüssel zur anderen Rosemary gegeben. Vier Jahre wohnten sie nun Seite an Seite, getrennt durch diese dünnen Wände, und sahen sich doch täglich. Rosemary hatte versucht, ab und zu Miete zu bezahlen, doch David hatte das abgelehnt und ihr gesagt, sie solle wieder auf die Schule gehen und einen Abschluß machen; sie könne ihm das Geld später zurückzahlen. Er war sich im klaren darüber, daß seine Motive nicht ausschließlich selbstloser Natur waren. Und doch konnte er es nicht mal sich selbst erklären, warum sie ihm so viel bedeutete. »Ich nehme den Platz der Tochter ein, die du weggegeben hast«, hatte sie einmal gesagt. Er hatte genickt und darüber nachgedacht, aber auch das war es nicht wirklich. Es hatte mehr damit zu tun, daß Rosemary sein Geheimnis kannte, so seine Vermutung. Er hatte seine Lebensgeschichte – das erste und letzte Mal, daß er sie preisgab – wie im Rausch über sie ausgeschüttet, und sie hatte ihm zugehört, ohne ein Urteil darüber zu fällen. Es vermittelte ihm ein großes Freiheitsgefühl, daß er Rosemary gegenüber, die ihn angehört hatte, ohne ihn zurückzuweisen, ganz er selbst sein konnte. Sie hatte auch niemandem etwas davon erzählt. Auf wundersame Weise hatten Rosemary und Paul über die Jahre eine Freundschaft aufgebaut. Zunächst sahen sie sich als Rivalen, später führten sie ernste, andauernde Diskussionen über Probleme, die sie beide betrafen – Politik, Musik oder soziale Gerechtigkeit. Es waren Diskussionen, die bei Pauls seltenen Besuchen entflammten, die während des Abendessens begannen und bis spät in die Nacht gingen.
|407| Manchmal hatte David den Verdacht, daß dies Pauls Art war, ihn auf Distanz zu halten, eine Möglichkeit, bei ihm zu sein, ohne über etwas wirklich Persönliches reden zu müssen. Hier und da unternahm David Annäherungsversuche, doch Paul war dann plötzlich müde, schob seinen Stuhl zurück und gähnte.
Nun schaute Rosemary hoch, strich sich mit dem Handgelenk eine Haarsträhne von der Wange und winkte zurück. David speicherte seine Dateien und lief den engen Korridor entlang. Auf dem Weg kam er an der Tür zu Jacks Zimmer vorbei. Eigentlich hatte sie verriegelt werden sollen, als das Haus in ein Zweifamilienhaus umgebaut worden war, doch eines Abends hatte David auf einen Impuls hin die Klinke heruntergedrückt und bemerkt, daß dies vergessen worden war. Nun öffnete er leise die Tür. Rosemary hatte die Wände in Jacks Zimmer in hellem Blau gestrichen, das Bett und die Kommode, die sie auf dem Sperrmüll gefunden hatte, in strahlendem Weiß. Der Geruch von Parfüm und Brausepulver lag in der Luft. Eine Unterhose hing zum Trocknen an einem Stuhl in der Ecke. David blieb stehen und lauschte den Geräuschen im Haus. Das leise Tropfen eines Wasserhahns, das Brummen des alten Kühlschranks. Er atmete ihren Duft ein, den Jacks, zog die Tür fest zu und ging weiter den engen Flur entlang. Er hatte Rosemary nie von der offenen Tür erzählt, war aber auch nie hindurchgegangen. Es war eine Frage der Ehre, daß er trotz der Gerüchte nie die Situation ausgenutzt hatte, nie in ihr Privatleben vorgedrungen war. Dennoch fühlte er sich wohl bei dem Gedanken, daß diese Tür existierte.
Obwohl noch viel Papierkram zu erledigen war, ging David die Treppe hinunter. Seine Laufschuhe standen auf der hinteren Veranda. Er zog sie an, band sich die Schnürsenkel fest zu und ging außen herum vors Haus. Jack stand am Zaun und pflückte die Rosenblüten. David ging in die Hocke und zog ihn an sich, spürte sein sanftes Gewicht, seinen gleichmäßigen Atem. Jack war im November geboren worden, am |408| späten Nachmittag, als es gerade anfing zu dämmern. David hatte Rosemary ins Krankenhaus gefahren, als die Wehen einsetzten, und hatte ihr in den ersten sechs Stunden Eis gebracht und mit ihr Schach gespielt. Im Gegensatz zu Norah war Rosemary nicht an einer natürlichen Geburt gelegen gewesen. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt bekam sie eine örtliche Betäubung, und als die Wehen sich verlangsamten, wurde ihr Pitozin verabreicht, um die Geburt zu beschleunigen. David hielt ihre Hand, als die Kontraktionen stärker wurden, doch
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