Die Tochter des Fotografen
Neugeborene sanft an der Wange berühren konnte. »Mein Engel.« Sie überbrückte die Distanz, indem sie ihre Hände auf Phoebes Schultern legte. »Erinnerst du dich noch, |452| wie du mit Avery Rain befreit hast? Wir lieben Rain über alles – aber er macht viel Arbeit. Du mußt das Katzenklo saubermachen, sein Fell bürsten, du mußt hinter ihm herräumen, wenn er mal wieder sein Chaos hinterläßt, du mußt ihn rein- und rauslassen, und du machst dir große Sorgen, wenn er mal nicht nach Hause kommt. Ein Kind zu haben bedeutet noch viel mehr, Phoebe. Ein Kind zu haben bedeutet, sich um zwanzig Rains zu kümmern.«
Phoebe ließ den Kopf hängen, und Tränen rannen ihr die Wangen hinunter. »Das ist nicht fair«, flüsterte sie.
»Nein, das ist es nicht«, stimmte Caroline zu.
Still standen sie eine Weile im grellen Neonlicht.
»Phoebe, kannst du mir helfen?« fragte sie schließlich. »Linda braucht dringend auch noch ein paar Kekse.«
Phoebe nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Mit Schachteln und Flaschen beladen, gingen sie stumm die Treppe hinauf und zurück durch den Korridor.
Später am Abend erzählte Caroline Al, was passiert war. Er saß mit verschränkten Armen neben ihr auf der Couch und war fast schon eingeschlafen. Er hatte sich vorher rasiert, und sein Hals war noch empfindlich gerötet. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. In der Morgendämmerung würde er aufstehen und wieder davonfahren.
»Sie will unbedingt ihr eigenes Leben führen, Al. Und sie stellt es sich so einfach vor.«
»Mmm«, sagte er und richtete sich auf. »Vielleicht ist es das auch, Caroline. Es gibt andere, die in dieser Einrichtung leben, und sie scheinen zurechtzukommen. Wir wären gleich um die Ecke.«
Caroline schüttelte den Kopf. »Ich kann sie mir draußen in der Welt einfach nicht vorstellen. Und sie wird ganz sicher nicht heiraten können, Al. Was, wenn sie tatsächlich plötzlich schwanger wäre? Ich kann nicht noch ein zweites Kind großziehen – und genau das würde es bedeuten.«
»Ich möchte auch kein zweites Kind großziehen.«
|453| »Vielleicht sollten wir sie eine Weile von Robert fernhalten.«
Al wandte sich verwundert zu ihr. »Hältst du das für eine gute Idee?«
»Ich weiß es nicht«, seufzte Caroline. »Ich weiß es einfach nicht.«
»Hör mir zu«, sagte Al sanft. »Seitdem ich dich kenne, von der ersten Minute an, hast du gefordert, daß die Welt ihre Türen vor Phoebe nicht verschließt. ›Unterschätzt sie nicht‹ – wie oft habe ich das aus deinem Mund gehört? Warum läßt du sie also nicht ausziehen? Warum sollten wir ihr die Chance nicht geben? Vielleicht gefällt es ihr dort. Vielleicht findest du Gefallen an deiner Freiheit.«
Sie starrte auf den Stuck an der Decke, dachte sich, daß sie mal wieder gestrichen werden könnte, und ließ die unbequeme Wahrheit an die Oberfläche steigen. »Ich kann mir mein Leben ohne sie nicht vorstellen«, sagte sie sanft.
»Das verlangt auch niemand von dir. Aber sie ist erwachsen, Caroline. Das ist der Punkt. Wofür hast du dein Leben lang gekämpft, wenn nicht für ein halbwegs unabhängiges Leben für Phoebe?«
»Das hört sich so an, als wärst du es, der diese Freiheit gern hätte«, sagte Caroline. »Als wärst du bereit, etwas Neues anzupacken. Zu reisen.«
»Du etwa nicht?«
»Natürlich«, schrie sie auf, überrascht vom Nachdruck ihrer Antwort. »Aber Al – selbst wenn Phoebe auszieht, wird sie nie völlig unabhängig sein. Und ich habe Angst, daß du deswegen unglücklich bist. Ich habe Angst, daß du uns verläßt. Du hast dich die letzten Jahre so entfernt, Schatz, bist so fremd geworden.«
Al schwieg lange Zeit. »Warum bist du so verbittert?« fragte er schließlich. »Was habe ich getan, daß du glaubst, ich würde euch verlassen?«
»Ich bin nicht verbittert«, sagte sie schnell, denn seine Stimme verriet ihr, daß sie ihn verletzt hatte. »Al, warte hier |454| eine Sekunde.« Sie ging durch den Raum und holte den Brief aus der Schublade. »Das ist der Grund, warum ich unruhig bin. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Er nahm den Brief in die Hand und las ihn langsam, drehte ihn einmal um, als könne sein Geheimnis durch irgend etwas gelüftet werden, was auf der Rückseite stand, und las ihn ein zweites Mal.
»Wieviel Geld ist auf diesem Konto?« fragte er und schaute auf.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es noch nicht. Ich muß persönlich dort erscheinen, um es zu
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