Die Tochter des Fotografen
erfahren.«
Al nickte und widmete sich wieder dem Brief. »Die Vorgehensweise ist schon komisch. Ein geheimes Konto.«
»Ich weiß. Vielleicht hatte er Angst, daß ich es Norah erzähle. Vielleicht wollte er sichergehen, daß sie genug Zeit hätte, seinen Tod zu verarbeiten, falls ich es täte. Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen.« Sie dachte an Norah, wie sie durch die Welt lief, ohne den leisesten Verdacht zu haben, daß ihre Tochter noch am Leben war. Und Paul? Was war aus ihm geworden? Aus diesem dunkelhaarigen Baby, das sie nur ein einziges Mal gesehen hatte.
»Was glaubst du, was wir tun sollten?«
»Ich denke, zunächst sollten wir Genaueres in Erfahrung bringen. Sobald ich zurück bin, gehen wir zusammen zu diesem Anwalt. Ich kann mir einen oder zwei Tage freinehmen. Was danach kommt, weiß ich nicht, Caroline. Wir sollten eine Nacht darüber schlafen. Wir müssen nicht sofort etwas unternehmen.«
»In Ordnung«, sagte sie, und all ihr innerer Aufruhr der letzten Woche fiel von ihr ab. Wenn Al es sagte, hörte es sich so einfach an. »Ich bin froh, daß du da bist«, sagte sie.
»Ganz ehrlich, Caroline.« Er nahm ihre Hand. »Ich gehe nirgendwohin. Außer vielleicht nach Toledo morgen früh, so gegen sechs. Deshalb werde ich mich jetzt auch aufs Ohr legen.«
|455| Daraufhin küßte er sie mit Nachdruck und zog sie an sich. Caroline schmiegte ihre Wange an seine und atmete seinen Duft und seine Wärme. Sie dachte an den Tag im Kinderheim am Rand von Louisville. An die säuerliche Luft, ihre Schritte im Gang und an die Erleichterung, die sie verspürt hatte, als sie Phoebe geschnappt und sie aus der doppelten Schwingtür herausgetragen hatte: der Augenblick, der ihr Leben geprägt hatte.
Al stand auf, hielt sie noch immer an der Hand. »Kommst du mit hoch?« Sie nickte und erhob sich, ihre Hand in seiner.
*
Am Morgen stand sie früh auf, machte Frühstück und verzierte Spiegeleier, Speck und Hackbällchen mit Petersilie.
»Wenn das mal nicht gut riecht«, sagte Al, als er hereinkam, sie auf die Wange küßte und die Zeitung und die Post vom Vortag auf den Tisch fallen ließ. Die Briefe fühlten sich kühl und feucht in ihren Händen an. Sie dachte daran, ihn an den Anwalt zu erinnern. Es waren zwei Rechnungen und eine heitere Postkarte von der Ägäis mit ein paar Worten von Doro auf der Rückseite.
Caroline fuhr mit ihren Fingern über die kalte blaue See. »Trace hat sich in Paris den Knöchel verstaucht.«
»So was Blödes.« Al schlug die Zeitung auf und schüttelte den Kopf über die Neuigkeiten zur Wahl.
»Hey Caroline«, sagte er nach einer Weile und ließ die Zeitung sinken. »Letzte Nacht habe ich überlegt, daß du einfach mitkommen könntest? Linda würde sicher übers Wochenende nach Phoebe schauen. Wir könnten mal raus hier. Du und ich. Du hättest Gelegenheit, zu sehen, wie Phoebe zurechtkommt, wenn sie eine Weile auf sich allein gestellt ist. Was meinst du?«
»Gleich jetzt? Einfach losfahren, meinst du?«
»Ja. Pflücke den Tag. Warum nicht?«
»Ach«, sagte sie nervös und erfreut, obwohl sie die langen Stunden unterwegs nicht mochte. »Ich weiß nicht. Ich muß |456| noch so viel erledigen diese Woche. Vielleicht nächstes Mal«, fügte sie schnell hinzu, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen.
»Wir könnten diesmal ein paar Nebenstraßen entlangfahren«, sagte er. »Das würde es für dich interessanter machen.«
»Das ist wirklich eine gute Idee«, sagte sie und war überrascht, daß sie tatsächlich Gefallen daran finden könnte.
Er lächelte enttäuscht, lehnte sich zu ihr hinüber und küßte sie flüchtig mit kühlen Lippen.
Nachdem Al weggefahren war, hängte Caroline Doros Postkarte mit dem hellen, verlockenden Meer an den Kühlschrank. Es war ein trostloser Novembertag, draußen war es feucht und grau und kurz davor zu schneien, und so sah sie sich gern das Meer an, den Randstreifen warmen Sandes. Die ganze Woche über – während sie den Patienten zu Hilfe kam, das Abendessen zubereitete oder die Wäsche faltete – dachte Caroline an Als Einladung. Sie dachte an den leidenschaftlichen Kuß zwischen Robert und ihrer Tochter, in den sie hineingeplatzt war, und an das Wohnheim, wo Phoebe leben wollte. Al hatte recht. Eines Tages würde es sie beide nicht mehr geben. Und Phoebe hatte das Recht auf ein eigenständiges Leben.
Nichtsdestotrotz war die Welt nicht weniger grausam als gewöhnlich. Während sie Dienstag bei Frikadellen mit Kartoffelbrei und
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