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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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entfernt, wie sich die Badezimmertür öffnete und schloß, dann vernahm sie das schwache Rinnen von Wasser. Ihre Schwester Bree kam leise die Treppe hinunter. Sie |56| trug ein altes Hemd, dessen Ärmel ihr bis zu den Fingerspitzen reichten. Ihre Beine waren weiß, ihre schmalen Füße standen nackt auf dem Holzboden.
    »Mach nicht das Licht an«, bat Norah.
    »In Ordnung.« Bree kam auf sie zu und berührte Pauls Kopfhaut sanft mit ihren Fingern. »Wie geht es meinem kleinen Neffen. Wie geht’s dir, Paul, mein Süßer?«
    Norah betrachtete das winzige Gesicht ihres Sohnes, und wie immer, wenn sein Name genannt wurde, war sie überrascht. Er füllte seinen Namen noch nicht aus, noch trug er ihn wie ein Armband, das leicht abgestreift werden und verschwinden konnte. Sie hatte etwas über Leute gelesen – Wo hatte das noch gestanden? Auch das wollte ihr nicht einfallen –, die sich weigerten, ihren Kindern in den ersten Lebenswochen einen Namen zu geben, da sie glaubten, daß sie noch nicht auf der Erde angekommen wären und sich noch zwischen den Welten aufhielten.
    »Paul.« Sie sprach seinen Namen laut und bestimmt aus. Er klang warm, wie ein Stein, der in der Sonne gelegen hatte; ein Anker.
    Phoebe
, setzte sie leise, für sich, hinzu.
    »Er ist hungrig«, wandte sie sich an ihre Schwester. »Er ist immer hungrig.«
    »Ah, dann kommt er ganz nach seiner Tante. Ich mache mir Toast und Kaffee. Willst du auch etwas?«
    »Vielleicht ein Wasser«, bat sie und sah Bree nach, die langgliedrig und anmutig das Zimmer verließ. Seltsam, daß sie ihre Schwester, die immer und in allem ihr Gegenteil gewesen war und von der sie oft geglaubt hatte, sie sei zu ihrer Bestrafung auf die Erde geschickt worden, jetzt bei sich haben wollte, aber so war es nun einmal.
    Bree war erst zwanzig, aber so eigensinnig und selbstbewußt, daß es Norah oft schien, als sei sie die Ältere. Vor drei Jahren, sie war gerade in die Highschool gekommen, war sie mit einem Apotheker durchgebrannt, der gegenüber |57| gewohnt hatte. Er war Junggeselle und doppelt so alt wie sie.
    Die Leute hatten ihm die Schuld an der Affäre gegeben. In seinem Alter hätte er wissen müssen, daß so etwas zu nichts führte. Brees ungestümes Gemüt führten sie darauf zurück, daß sie ihren Vater so plötzlich verloren hatte. Als er starb, war sie ein Teenager gewesen, und man wußte ja, daß die Pubertät eine äußerst sensible Zeit war. So sagten sie den beiden eine kurze Ehe voraus, die ein schlimmes Ende nehmen würde, und so kam es dann auch.
    Aber wer annahm, daß Bree durch ihre fehlgeschlagene Ehe nun gebändigt war, lag damit falsch. Seit Norahs Klein-Mädchen-Zeit hatte sich einiges geändert, und so kehrte Bree nicht, wie erwartet, einsichtig und verlegen nach Hause zurück. Statt dessen hatte sie sich an der Universität eingeschrieben und ihren Namen in Bree geändert, da sie fand, daß er schöner als Brigitte klang: Bree wie »breezy and free«, frisch und frei.
    Ihre Mutter, für die die skandalöse Hochzeit und die noch skandalösere Scheidung äußerst beschämend gewesen waren, hatte einen Piloten der Trans World Airlines geheiratet und war nach St. Louis gezogen. Ihre Töchter hatte sie sich selbst überlassen. »Ich bin so froh, daß wenigstens aus einer meiner Töchter eine Dame geworden ist«, erklärte sie, als sie kurz von der Kiste mit dem Porzellan aufblickte, die sie gerade packte. Das war im Herbst gewesen. Die Luft war frisch, und es regnete goldene Blätter. Ihr weißblondes Haar war zu einer duftigen Wolke gesponnen, und ihre zarten Gesichtszüge wurden plötzlich mild, als sie sich ergriffen an ihre Tochter wandte. »Oh, Norah, du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, ein anständiges Mädchen zu haben. Selbst wenn du nie heiraten solltest, mein Liebling, wirst du immer eine Dame sein.« Und in Norah, die gerade dabei war, ein gerahmtes Porträt ihres Vaters in einen Karton gleiten zu lassen, war bei diesen Worten eine dunkle Wut hochgestiegen, |58| die sie rot werden ließ. Auch sie war von Brees Frechheit und ihrem Mut schockiert gewesen. Außerdem ärgerte sie sich darüber, daß die gesellschaftlichen Regeln sich scheinbar gelockert hatten und Bree, trotz Heirat, Scheidung und Skandal, mehr oder weniger ungestraft davongekommen war.
    Sie haßte, was Bree ihnen angetan hatte. Gleichzeitig wünschte sie sich verzweifelt, sie hätte es zuerst getan.
    Aber so etwas wäre ihr nie in den Sinn gekommen, denn sie hatte es

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