Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
Vom Netzwerk:
vorbereitet, wartete nur auf ihr Kommen, und ihr Sohn lag in ihren Armen. Doch am Eingang des Gebäudes, neben zwei sich verjüngenden Betonsäulen, hielt sie plötzlich an, unfähig, weiterzugehen.
    »David«, rief sie. Er drehte sich um, dunkelhaarig und bleich stand er da, wie ein Baum vor hellem Himmel.
    »Ja?« fragte er. »Was ist denn?«
    »Ich will sie sehen.« Obwohl sie flüsterte, drangen ihre Worte mit Nachdruck durch die Stille des Parkplatzes. »Ich muß sie sehen, bevor wir gehen. Nur einmal.«
    David schob die Hände in die Taschen und studierte das Pflaster. Den ganzen Tag über waren von dem zickzackförmigen Dach des Gebäudes Eiszapfen heruntergestürzt; nun lagen sie zerschmettert neben den Stufen.
    |54| »Norah«, sagte er sanft. »Bitte, laß uns einfach nach Hause fahren. Wir haben einen wunderbaren Sohn.«
    »Ich weiß«, sagte sie, weil man das Jahr 1964 schrieb, er ihr Ehemann war und sie sich immer völlig seinem Willen gebeugt hatte. Dennoch schien sie sich nicht von der Stelle rühren zu können ohne das Gefühl, daß sie einen wichtigen Teil von sich selbst zurücklassen würde. »Oh, David, nur einen Augenblick. Warum kann ich sie denn nicht sehen?«
    Ihre Blicke trafen sich, und die Qual, die in seinen Augen stand, ließ ihre Augen feucht werden.
    »Sie ist nicht da«, sagte David mit rauher Stimme. »Des halb . Auf der Farm der Bentleys gibt es einen Familienfriedhof. In Woodford. Ich habe ihn gebeten, sie dorthin zu bringen. Norah, bitte. Du machst es mir so schwer.«
    Norah schloß die Augen und fühlte bei dem Gedanken, daß ein Säugling, daß ihre Tochter in der kalten Märzerde vergraben wurde, wie etwas von ihr wich. Ihre Arme, die Paul hielten, waren stark und fest, aber ihr übriger Körper fühlte sich flüssig an, als ob auch sie davonfließen und mit dem Schnee in den Gräben verschwinden würde. David hatte recht, dachte sie, sie wollte es nicht wissen.
    Als er die Treppe heraufkam und den Arm um ihre Schultern legte, nickte sie, und sie gingen zusammen über den leeren Parkplatz, dem verblassenden Licht entgegen. Er sicherte den Kindersitz und fuhr sie, auf seine überlegte Art, vorsichtig nach Hause. Sie brachten Paul über die Veranda ins Haus und legten das schlafende Baby in sein Zimmer. Die Art, wie David sich um alles gekümmert und wie er für sie gesorgt hatte, hatte ihr einen gewissen Trost gespendet und hielt sie davon ab, weiter auf dem Wunsch zu beharren, ihre Tochter zu sehen.
    Aber von jetzt an träumte sie jede Nacht von verlorenen Dingen.
    Paul war eingeschlafen. Vorm Fenster bewegten sich die Äste des von neuen Knospen übersäten Hornstrauches gegen |55| den indigofarbenen Himmel. Norah drehte sich um, setzte Paul an ihre andere Brust, schloß wieder die Augen und ließ ihre Gedanken schweifen. Plötzlich erwachte sie, die Sonne stand voll im Zimmer, inmitten von Nässe und Geschrei. Sie hatte drei Stunden geschlafen. Als sie sich aufsetzte, kam sie sich schwer und übergewichtig vor. Ihr Bauch war so wabbelig, daß er sich ausbuchtete, wann immer sie sich hinlegte. Ihre Brüste waren geschwollen und steif, und die Naht schmerzte noch. In der Eingangshalle knarrten die Dielen unter ihrem Gewicht.
    Auf dem Wickeltisch schrie Paul noch lauter und nahm eine fleckige, zornigrote Farbe an. Sie zog ihm seine feuchten Sachen und seine vollgesogene Baumwollwindel aus. Seine Haut war sehr zart, und seine Beine sahen, dürr und gerötet, wie sie waren, wie die Flügel eines gerupften Hühnchens aus. In einem Winkel ihres Bewußtseins tauchte ihre tote Tochter auf, wachsam und still. Sie tupfte Pauls Nabelschnur mit Alkohol ab, warf die Windel zum Einweichen in einen Eimer und zog ihn wieder an.
    »Süßes Baby, kleiner Schatz«, flüsterte sie, als sie ihn hochhob und ihn kosend die Treppe hinuntertrug.
    Die Rollos im Wohnzimmer waren noch heruntergelassen, und auch die Vorhänge waren zugezogen. Norah bewegte sich auf den alten Schaukelstuhl zu und öffnete ihren Morgenmantel. Die Milch schoß schon wieder in ihre Brüste und folgte damit ihrem eigenen Rhythmus, der so unwiderruflich war wie die Gezeiten und der alles, was sie je gewesen war, mit sich fortzureißen schien. Zum Schlaf erwacht, kam es ihr in den Sinn, und sie lehnte sich beunruhigt zurück, weil sie nicht daraufkam, wer diese Worte geschrieben hatte.
    Das Haus war still, nur die Heizung schaltete sich mit einem Klicken aus. Draußen an den Bäumen raschelten Blätter. Da hörte sie weit

Weitere Kostenlose Bücher