Die Tochter des Fotografen
Mann zögerte lange, das Licht der Straßenlampen leuchtete silbern auf seinem Haar, bevor er mit den Schultern zuckte, nickte und zurück auf den Bordstein trat. Norah fuhr sehr behutsam los und setzte, obwohl die Straße leer war, anständig ihre Blinker. Im Rückspiegel sah sie, wie er ihr mit verschränkten Armen nachsah, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war.
Die Welt war friedlich, als sie auf den vertrauten, engen Straßen zurückfuhr, und die Wirkung des Weins ließ nach. Ihr neues Haus war hell erleuchtet. In jedem Fenster oben wie unten Licht. Sie parkte in der Einfahrt, stieg aus und verharrte einen Moment auf dem feuchten Gras, während der Regen ihr Haar und ihren Mantel mit feinen Wasserperlen benetzte. Drinnen erspähte sie David, der auf dem Sofa saß. Paul lag in seinen Armen und schlief, den Kopf leicht an Davids Schulter gelehnt. Sie mußte daran denken, wie sie das |115| Haus hinterlassen hatte. Bilder von verschüttetem Wein, sich über den Boden kringelnden Luftschlangen und ruiniertem Braten zogen ihr durch den Kopf, bevor sie den Mantel enger um sich schlang und die Stufen hocheilte.
»Norah!« David, der Paul noch in den Armen hielt, kam ihr an der Tür entgegen. »Norah, was ist passiert? Du blutest!«
»Das ist nicht schlimm. Mir geht es gut«, beschwichtigte sie ihn und wehrte seine Hand ab, als er ihr zu helfen versuchte. Ihr Fuß tat weh, aber sie war froh über den Schmerz, der einen Kontrapunkt zu dem Pochen in ihrem Kopf bildete und sich in gerader Linie durch ihren Körper zog, was ihr Halt zu geben schien. Paul schlief gleichmäßig atmend. Sie legte ihre Hand auf seinen kleinen Rücken.
»Wo ist Bree?« fragte sie.
»Sie sucht nach dir«, antwortete David. Er warf einen Blick ins Eßzimmer, und als sie seinen Augen folgte, sah sie das Chaos. »Als du nicht zu Hause warst, habe ich mir Sorgen gemacht und sie angerufen. Sie hat Paul vorbeigebracht und ist dann losgezogen, um dich zu suchen.«
»Ich war beim alten Haus«, erklärte Norah erschöpft. »Ich habe eine Mülltonne umgefahren.« Sie legte die Hand an die Stirn und schloß die Augen.
»Du hast getrunken«, stellte er ruhig fest.
»Wein zum Abendessen. Du warst spät dran.«
»Da stehen zwei leere Flaschen, Norah.«
»Bree war hier. Ich habe lange gewartet.«
Er nickte. »Diese Jugendlichen heute nacht, die den Unfall gebaut haben … da war alles voll mit Bier. Das hat mir angst gemacht, Norah.«
»Ich war nicht betrunken.«
Das Telefon klingelte, und sie nahm den Hörer ab. Er lag schwer in ihrer Hand. Es war Bree, die sich mit schnellen Fragen erkundigte, was geschehen war. »Ich bin okay.« Norah bemühte sich, ruhig und klar zu sprechen. »Mir geht es gut.« David beobachtete sie. Besonders aufmerksam betrachtete |116| er die dunklen Linien ihrer Handflächen, in denen das Blut festgetrocknet war. Sie verbarg ihre Hände und drehte sich weg.
»Komm«, sagte er sanft, als sie aufgelegt hatte, und berührte ihren Arm. »Komm mal her.«
Sie gingen nach oben. Während David Paul in seine Wiege legte, zog Norah ihre zerissenen Strümpfe von den Beinen und setzte sich auf den Rand der Badewanne. Ihre Umgebung gewann an Kontur und wurde klarer. Sie blinzelte in das grelle Licht, während sie versuchte, die Geschehnisse dieses Abends in die richtige Reihenfolge zu bekommen. Als David zurückkam, strich er ihr die Haare von der Stirn und wusch ihr mit sanften, präzisen Bewegungen den Schnitt aus.
»Ich hoffe, der andere Kerl sieht schlimmer aus«, scherzte er, und sie glaubte, daß er die gleichen Worte zu den Patienten sagte, die in seine Praxis kamen – Smalltalk, Spöttelei, leere Worte, die von seiner eigentlichen Arbeit ablenken sollten.
»Da war kein anderer«, sagte sie stur und mußte an den grauhaarigen Mann denken, der sich in ihr Fenster gelehnt hatte. »Eine Katze hat mich erschreckt, und ich habe das Lenkrad verrissen. Aber die Windschutzscheibe – au!« schrie sie auf, als er ihr Jod auf den Schnitt pinselte. »Oh, David, das tut weh.«
»Ist gleich vorbei«, beruhigte er sie und legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. Dann kniete er sich neben die Badewanne und nahm ihren Fuß in die Hand.
Als er die Glassplitter herauszog, beobachtete sie, wie genau und feinfühlig er arbeitete, während er tief in Gedanken versunken war. Sie wußte, daß er jedem Patienten die gleichen geschulten Handgriffe zukommen lassen würde.
»Du bist so nett zu mir«, flüsterte sie. Auf einmal sehnte sie
Weitere Kostenlose Bücher