Die Tochter des Fotografen
leben, und jeder Tag würde sie einen Schritt weiter von ihrer toten Tochter entfernen.
|120| 6. Kapitel
März 1965
D IE DUSCHE RAUS CHTE, UND DER WIRBELNDE Wasserdampf legte sich auf Spiegel und Fenster und vernebelte den blassen Mond. In dem winzigen violetten Badezimmer ging Caroline auf und ab, wobei sie Phoebe eng an sich drückte. Phoebes Atem ging flach und schnell, und ihr Herz raste. »Werde gesund, mein Baby«, murmelte Caroline, ihr weiches, dunkles Haar streichelnd. »Komm schon, mein süßes Mädchen, werde gesund.« Müde legte sie eine Pause ein, um den Mond zu betrachten, einen Lichtfleck, der sich in den Ästen der Platane verfangen hatte, da mußte Phoebe wieder husten. Der Schleim saß tief in ihrer Brust. Caroline fühlte, wie sich der kleine Körper versteifte, als Phoebe die Luft mit einem scharfen Keuchen aus ihrer verengten Kehle herausbellte. Sie hatte Krupp, mit Symptomen wie aus dem Lehrbuch. Caroline strich Phoebe über den Rücken. War der Hustenanfall vorüber, begann sie wieder zu laufen, damit sie nicht in Versuchung geriet, im Stehen einzuschlafen. In diesem Jahr war sie bereits mehr als einmal aus dem Schlaf geschreckt, um festzustellen, daß sie stand und Phoebe wie durch ein Wunder noch immer sicher in ihren Armen lag.
Die Treppe knarrte. Dann hörte sie Schritte auf den Dielen, und plötzlich flog die violette Tür auf, und ein kühler Luftstrom schlug herein. Doro trat ein. Sie trug ein hellblaues Nachthemd, und ihr graues Haar fiel lose um ihre Schultern.
»Ist es schlimm?« fragte sie besorgt. »Es hört sich so schrecklich an. Soll ich den Wagen holen?«
»Ich glaube, das ist nicht nötig. Würdest du aber bitte die Tür wieder zumachen? Der Dampf ist gut für sie.«
|121| Doro zog die Tür zu und setzte sich auf den Rand der Badewanne.
»Wir haben dich aufgeweckt«, stellte Caroline bedauernd fest, während Phoebes Atem schwach gegen ihren Hals schlug. »Entschuldige.«
Doro zuckte mit den Achseln. »Du weißt, wie es um meinen Schlaf bestellt ist. Ich war sowieso wach und habe etwas gelesen.«
»Etwas Interessantes?« fragte Caroline nach. Mit dem Aufschlag ihres Morgenmantels wischte sie über das Fenster: Mondlicht fiel in den Garten, der drei Stockwerke unter ihnen lag, und beschien das Gras.
»Wissenschaftsjournale. Langweilig wie ein Telefonbuch, selbst für mich. Das Ziel war einzuschlafen.«
Caroline mußte lächeln. Doro hatte einen Doktor in Physik; sie arbeitete an der Universität in demselben Institut, dem ihr Vater einst vorgestanden hatte. Leo March war über achtzig, brillant und bekannt, und obwohl er körperlich kräftig war, setzte sein Erinnerungsvermögen manchmal aus, und er war zeitweise geistig verwirrt. Vor elf Monaten hatte Doro Caroline als seine Pflegerin eingestellt.
Dieser Job war ein Geschenk, dessen war sie sich bewußt. Sie war aus dem Fort-Pitt-Tunnel aufgetaucht und hatte gerade die Brücke über den Monogahela River erreicht, als sich smaragdgrüne Hügel über der Flußebene erhoben und Pittsburgh plötzlich vor ihr lag. Die Größe und Schönheit dieser glänzenden, lebhaften Stadt raubten ihr fast den Atem, so daß sie fürchten mußte, die Kontrolle über den Wagen zu verlieren.
Einen langen Monat hatte sie in einem billigen Motel am Rande der Stadt gewohnt, hatte Annoncen aufgegeben und ihre Ersparnisse schwinden sehen. Als sie zu dem Bewerbungsgespräch ihrer jetzigen Arbeitsstelle erschien, war ihre Euphorie bereits in dumpfe Panik umgeschlagen. Sie klingelte und wartete auf der Veranda. Leuchtend gelbe Osterglocken |122| schmiegten sich an langes, ungemähtes Gras, und im Nachbarhaus fegte eine Frau in einem hellblauen Hausanzug Ruß von den Stufen. Darum hatten sich die Bewohner dieses Hauses nicht geschert; Phoebes Autositz thronte auf dem Schmutz mehrerer Tage. Überall lagen grobkörnige Schmutzhäufchen, die aussahen wie schwarz gewordener Schnee; Caroline hinterließ darin scharf umrissene Fußabdrücke.
Als Dorothy March in einem gepflegten grauen Kostüm endlich die Tür öffnete, hob Caroline den Kindersitz an und trat ein, ohne den mißtrauischen Blick, den die schlanke, große Frau auf Phoebe geworfen hatte, zu beachten. Sie setzte sich auf den Rand eines wackeligen Stuhls, dessen ehemals bordeauxrotes Polster bis auf einige dunkle Stellen an den Beschlagnägeln zu einem zarten Rosa verblaßt war. Dorothy March nahm ihr gegenüber auf einem Sofa aus rissigem Leder Platz, dessen einer Fuß von einem
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