Die Tochter des Fotografen
sich danach, die Distanz zwischen ihnen zu überwinden, eine Distanz, die sie geschaffen hatte.
Er schüttelte den Kopf, hielt einen Moment inne und sah sie an.
|117| »Nett?« wiederholte er langsam. »Norah, warum bist du da hingefahren, zu unserem alten Haus? Warum willst du es nicht aufgeben?«
»Weil es der letzte Schritt ist«, sagte sie sofort, von der Gewißheit und dem Leid in ihrer Stimme überrascht. »Der endgültige Schritt, mit dem wir sie hinter uns lassen.«
Kurz bevor er wegsah, schienen Anspannung und Ärger in Davids Zügen auf, die er schnell unterdrückte.
»Was schlägst du vor? Was soll ich noch tun? Ich dachte, dies neue Haus würde uns glücklich machen. Die meisten Menschen wären jedenfalls glücklich darüber.«
Sein Tonfall machte ihr angst; auch ihn konnte sie verlieren. Ihr Fuß pochte und auch ihr Kopf. Der Gedanke an die Szene, die sie verursacht hatte, ließ sie kurz die Augen schließen. Sie wollte nicht so unerreichbar weit von David entfernt sein.
»Gut«, lenkte sie langsam ein. »Ich werde den Immobilienmakler morgen anrufen. Wir sollten auf das Angebot eingehen.«
Während sie sprach, legte sich ein dünner Film über die Vergangenheit, eine Barriere, so mürbe und zerbrechlich wie eine zarte Eisschicht. Sie würde wachsen und fester werden, würde undurchlässig und undurchsichtig werden. Norah konnte sie regelrecht fühlen, und sie fürchtete sich davor. Noch mehr aber fürchtete sie das, was passieren würde, wenn sie zersprang. Ja, sie würden jetzt in die Zukunft sehen. Es würde ihr Geschenk an David und Paul sein.
Phoebe würde sie in ihrem Herzen lebendig halten.
David umwickelte ihren Fuß mit einem Handtuch und setzte sich auf seine Fersen. »Weißt du, ich sehe nicht, daß wir dorthin zurückziehen«, sagte er, wobei er jetzt, da sie eingewilligt hatte, sanfter klang. »Aber wir könnten es tun. Wenn du das wirklich willst, verkaufen wir das Haus und ziehen zurück.«
»Nein, wir leben jetzt hier.«
|118| »Aber du bist so traurig«, sagte er im Aufstehen. »Sei nicht mehr so traurig. Ich habe auch nichts vergessen, Norah. Nicht unseren Hochzeitstag, nicht unsere Tochter. Nichts von alledem.«
»Oh, David«, sagte sie. »Ich habe dein Geschenk im Auto gelassen.« Sie dachte an die Kamera mit ihren präzisen Skalenrädchen und Hebeln.
Für Ihre schönsten Erinnerungen
stand weiß und kursiv auf der Schachtel. Plötzlich wurde ihr klar, daß sie den Fotoapparat deswegen für David gekauft hatte, damit er jeden Moment einfangen und ihn niemals vergessen würde.
»Kein Problem«, sagte er. »Warte. Bleib hier sitzen.«
Er rannte die Treppe hinunter, während sie noch einen Moment auf dem Wannenrand saß. Dann stand sie auf, um durch die Eingangshalle zu Pauls Zimmer zu hinken. Der Teppich unter ihren Füßen war dunkelblau und dick. Auf die hellblauen Wände hatte sie Wolken gemalt, und über der Wiege schaukelte ein Mobile aus Sternen. Darunter schlief Paul. Die Decke hatte er von sich geworfen und seine Arme lang ausgestreckt. Sanft küßte sie ihn und deckte ihn zu. Sie fuhr mit der Hand durch sein weiches Haar und kitzelte ihn mit dem Zeigefinger an der Hand. Er war so groß geworden. Er konnte schon laufen und begann gerade zu sprechen. Wo waren die Nächte geblieben, in denen Paul – es war erst ein Jahr her – so konzentriert an ihrer Brust getrunken hatte und in denen das Haus voller Osterglocken war, die David überall hingestellt hatte? Sie erinnerte sich an die Kamera und wie sie durch ihr leeres Haus gegangen war, dazu entschlossen, jedes Detail festzuhalten, um einen Wall gegen das Vergessen zu bauen.
»Norah?« David kam in das Zimmer und stellte sich hinter sie. »Schließ die Augen.«
Ein kühles Band schimmerte auf ihrer Haut. Sie blickte hinunter und sah Smaragde, eine lange Reihe dunkler Steine, die vom goldenen Schein der Kette auf ihrer Haut umschlossen |119| waren. Sie würden zu ihrem Ring passen, sagte er, zu ihren Augen.
»Sie sind so schön, David«, flüsterte sie und berührte das Gold.
Seine Hände lagen auf ihren Schultern, und für einen Moment stand sie wieder inmitten des Rauschens an der Mühle, nur vom nächtlichen Glück umgeben. Atme nicht, dachte sie. Beweg dich nicht. Aber es hörte nicht auf. Draußen fiel leise der Regen, und Samen regten sich in der nassen, dunklen Erde. Paul seufzte und bewegte sich im Schlaf. Er würde morgen aufwachen, würde wachsen und sich verändern. Tag für Tag würden sie ihr Leben
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