Die Tochter des Fotografen
einem Frühjahr hatte meine Mutter Osterglocken gepflanzt, Hunderte von Zwiebeln. Wenn mein |125| Vater um sechs mit dem Zug von der Arbeit nach Hause kam, ging er sofort dorthin, um ihr einen Strauß zu pflücken. Du hättest ihn nicht erkannt«, erklärte sie. »Er war ein ganz anderer Mensch.«
»Ich weiß«, beruhigte Caroline sie sanft. »Das habe ich erkannt.«
Einen Augenblick lang schwiegen sie. Durch die wirbelnden Dampfschwaden war das Tropfen des Wasserhahns zu hören.
»Ich glaube, sie ist eingeschlafen«, bemerkte Doro. »Wird es ihr jetzt besser gehen?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Was ist mit ihr los, Caroline?« fragte Doro, entschlossen, eine Antwort auf ihre Frage zu erhalten. »Meine Liebe, ich weiß ja nicht viel von Babys, aber selbst ich merke, daß etwas nicht in Ordnung ist. Phoebe ist wunderbar, so ein süßes Ding, aber etwas stimmt nicht mit ihr, oder? Sie ist schon fast ein Jahr alt, aber sie lernt erst jetzt, aufrecht zu sitzen.«
Caroline betrachtete den Mond durch das verschleierte Fenster und schloß die Augen. Phoebes Bewegungslosigkeit als Säugling war ihr oft wie ein Geschenk erschienen, weil sie dadurch ruhig und aufmerksam war. Caroline hatte sich in dem Glauben wiegen können, daß alles ganz normal war. Aber nach sechs Monaten, als Phoebe zwar gewachsen, aber noch recht klein für ihr Alter war und keine Kraft in den Armen hatte, so daß sie einem Schlüsselbund zwar mit den Augen folgte und ab und zu winkte, es aber nie schaffte, ihn zu ergreifen, als sie keine Anstalten machte, alleine zu sitzen, hatte Caroline damit begonnen, Phoebe an ihrem freien Tag in die Bibliothek mitzunehmen. Auf den breiten Eichentischen der Carnegie-Bibliothek, in den luftigen, weitläufigen Räumen mit ihren hohen Decken hatte sie Bücher und Artikel gestapelt. Sie begann zu lesen, und die Texte führten sie in furchterregende, düstere Anstalten und offenbarten ihr kurze, hoffnungslose Lebensläufe. Mit jedem Wort, das sie |126| las, tat sich eine neue Grube in ihrer Magengegend auf. Und Phoebe war dabei, bewegte sich in ihrer Tragschale, winkte und gurrte: ein Baby, kein Fallbeispiel.
»Phoebe hat das Downsyndrom«, zwang sie sich zu sagen. »Das ist der Fachbegriff.«
»Oh, entschuldige«, sagte Doro betroffen. »Das tut mir leid. Deswegen hast du also deinen Mann verlassen. Du hast einmal gesagt, daß er sie nicht haben wollte. Du Arme. Das tut mir so schrecklich leid.«
»Das muß es nicht«, erklärte Caroline und griff nach Phoebe, um sie zurückzunehmen. »Sie ist wundervoll.«
»Das stimmt, das ist sie. Aber was wird aus ihr werden?«
Phoebe lag schwer und warm in ihren Armen. Erbittert wandte sich Caroline ihr zu, zog sie beschützend an sich und berührte ganz sanft ihre Wange.
»Was wird denn aus uns werden? Jetzt mal ehrlich, Doro, hast du dir dein Leben jemals so vorgestellt?«
Doro blickte weg. Schmerz stand in ihrem Gesicht. Vor Jahren war ihr Verlobter bei einer Mutprobe umgekommen, als er von einer Brücke in einen Fluß gesprungen war. Doro hatte um ihn getrauert und nie geheiratet. Obwohl sie es sich so sehr gewünscht hatte, hatte sie nie Kinder bekommen.
»Nein«, gab sie schließlich zu. »Aber das ist was anderes.«
»Warum? Warum ist es was anderes?«
»Caroline«, sagte Doro und streichelte ihren Arm. »Laß uns nicht darüber streiten. Du bist müde, und ich bin es auch.«
Caroline legte Phoebe in die Wiege und hörte undeutlich, wie sich Doros Schritte entfernten. Im trüben Schein der Straßenlampe sah sie wie jedes andere Kind aus. Ihre Zukunft lag vor ihr, unbeschrieben wie ein weißes Blatt und voller Möglichkeiten. Über die Felder, auf denen Doro einst gespielt hatte, rauschten Autos. Ihre Lichtkegel liefen über die Wand, und Caroline stellte sich vor, wie Reiher aus den sumpfigen Wiesen aufflogen und ihre Flügel im goldenen Licht der Morgendämmerung schwangen.
Was wird aus ihr werden?
|127| In Wahrheit lag Caroline selbst manchmal nachts wach und quälte sich mit dieser Frage.
In ihrem Zimmer warfen die Vorhänge, die vor Jahrzehnten von Doros Mutter gehäkelt und aufgehängt worden waren, zarte Schatten; das Mondlicht war so stark, daß man lesen konnte. Auf dem Schreibtisch lag ein Briefumschlag mit drei Fotos von Phoebe neben einem zweifach gefalteten Blatt Papier. Caroline öffnete es und überflog, was sie geschrieben hatte.
Sehr geehrter Dr. Henry,
ich schreibe, um Ihnen mitzuteilen, daß es uns beiden, Phoebe und mir, gutgeht. Wir
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