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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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schließlich sollen Sie sich hier auch wohl fühlen«, hatte sie gesagt und Caroline damit zu verstehen gegeben, daß ihre Probezeit vorüber war.
    Leo betrat das Zimmer mit einem Teller voller Eier und einem Glas Orangensaft.
    »Keine Sorge«, wehrte er ab, bevor sie überhaupt etwas sagen konnte. »Ich habe den verdammten Herd ausgestellt. Und jetzt nehme ich mein Frühstück mit nach oben, um in Ruhe zu essen.«
    »Achten Sie auf Ihren Tonfall«, warnte ihn Caroline.
    |130| Er grunzte eine Antwort und stampfte die Treppe hoch. Auf einmal war sie den Tränen nahe und legte eine Pause ein. Sie beobachtete, wie ein Kardinal im Fliederbusch landete und wieder wegflog. Was hatte sie hier zu suchen? Welche geheimen Sehnsüchte hatten sie zu ihrer radikalen Entscheidung bewogen und an diesen Ort geführt, von dem es kein Zurück mehr gab? Und was würde wohl aus
ihr
werden?
    Nach ein paar Minuten erschallten oben wieder die Trompeten, und die Türglocke läutete zweimal.
    Caroline hob Phoebe aus dem Laufstall.
    »Da sind sie«, sagte sie, während sie ihre Tränen mit dem Handgelenk wegwischte. »Zeit zu üben.«
    Sandra stand auf der Veranda, und als Caroline die Tür öffnete, stürzte sie, Tim in der einen und eine große Stofftasche in der anderen Hand, herein. Sie war groß, blond und energisch; ohne viele Umstände setzte sie sich mitten auf den Teppich und schüttete das Steckspielzeug auf einen Haufen.
    »Tut mir leid, daß ich so spät bin«, entschuldigte sie sich. »Der Verkehr war ziemlich dicht. Macht es dich nicht verrückt, so nah an einer Autobahn zu wohnen? Mich würde das verrückt machen. Egal, sieh, was ich gefunden habe. Sieh dir dieses tolle Steckspielzeug an – Plastik, verschiedene Farben. Tim liebt es.«
    Caroline setzte sich auch auf den Boden. Wie Doro war auch Sandra eine Freundin, die Caroline in ihrem alten Leben kaum getroffen hätte. Sie hatten sich an einem rauhen Tag im Januar kennengelernt, als Caroline, von Expertenmeinungen und trostlosen Statistiken überwältigt, vor Verzweiflung ein Buch zugeknallt hatte. Daraufhin hatte Sandra, die zwei Tische weiter inmitten ihrer eigenen Bücherstapel saß, deren Rücken und Umschläge Caroline schrecklich vertraut waren, aufgesehen. »Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen. Ich bin so wütend, daß ich eine Scheibe einschlagen könnte.«
    |131| Dann hatten sie sich unterhalten; vorsichtig zuerst, doch schon bald ohne Skrupel, redeten sie, als wäre ein Damm gebrochen. Sandras Sohn Tim war fast vier. Auch er hatte das Downsyndrom, aber Sandra hatte es lange nicht gewußt. Wohl hatte sie bemerkt, daß er sich langsamer entwickelte als ihre anderen drei Kinder, aber Sandra hielt ihn eben einfach nur für langsam, ohne nach einem Grund dafür zu suchen. Als vielbeschäftigte Mutter hatte sie einfach erwartet, daß er genau das tun würde, was ihre anderen Kinder auch getan hatten, und wenn er dafür etwas länger brauchte, war das in Ordnung. Mit zwei Jahren hatte er laufen gelernt, mit drei hatte sie ihm beigebracht, auf die Toilette zu gehen. Die Diagnose hatte die Familie geschockt; der Rat des Arztes, Tim in eine Pflegeinstitution zu stecken, hatte sie so wütend gemacht, daß sie die Dinge selbst in die Hand genommen hatte.
    Caroline hatte aufmerksam zugehört. Mit jedem Wort wurde ihr leichter ums Herz. Sie verließen die Bibliothek, um einen Kaffee trinken zu gehen. Caroline würde diese Stunden niemals vergessen, die Begeisterung, die sie empfunden hatte, als wäre sie von einem langen, langweiligen Traum erwacht. Was wäre, fragten sie sich, wenn sie einfach weiterhin annähmen, daß ihre Kinder alles lernen würden – vielleicht nicht schnell oder nicht so, wie es im Lehrbuch stand –, was gesunde Kinder lernten? Wie wäre es, wenn sie einfach diese Wachstums- und Entwicklungstabellen mit ihren präzisen Punkten und Kurven ignorierten? Was geschähe, wenn sie ihre Erwartungen beibehielten, aber keine Frist dafür setzten, wann sie erfüllt sein sollten? Was konnte schlimm daran sein? Warum sollte man es nicht ausprobieren?
    Ja, warum eigentlich nicht? Sie hatten begonnen, sich hier oder in Sandras Haus zu treffen. Bücher und Spielzeug, wissenschaftliche Untersuchungen, Geschichten und ihre eigenen Erfahrungen als Krankenschwester und Lehrerin wurden dabei ausgetauscht. Vieles basierte einfach auf dem gesunden Menschenverstand. Wenn Phoebe lernen sollte, |132| sich zu drehen, mußte man einfach eine leuchtende Tasse außerhalb ihrer

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