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Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
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Reichweite aufstellen; wenn Tim an seiner Koordination arbeiten mußte, gaben sie ihm eine stumpfe Schere und buntes Papier und ließen ihn schneiden. Nur langsam, manchmal kaum sichtbar, machten die Kinder Fortschritte, aber für Caroline waren diese Stunden zu einem Rettungsanker geworden.
    »Du siehst heute müde aus«, stellte Sandra fest.
    Caroline nickte. »Phoebe hatte letzte Nacht einen Krupp-Anfall. Deshalb weiß ich nicht, wie lange sie heute durchhalten wird. Was ist mit Tims Ohren, gibt es etwas Neues?«
    »Ich mag den neuen Arzt«, erzählte Sandra und lehnte sich zurück. Ihre Finger waren lang und stumpf; sie lächelte Tim an und reichte ihm eine gelbe Tasse. »Er schien echtes Mitgefühl zu haben und hat uns nicht einfach abgetan. Aber die Neuigkeiten sind nicht berauschend. Tims Hörverlust ist beträchtlich, deswegen ist sein Sprechvermögen wahrscheinlich noch so unterentwickelt. Hier, mein Süßer«, fügte sie hinzu und klopfte auf die Tasse, die er fallen gelassen hatte. »Zeig Fräulein Caroline und Phoebe, was du kannst.«
    Tim hatte das Interesse für die Tasse verloren; dafür fesselte der Teppichflor seine Aufmerksamkeit. Immer wieder fuhr er, fasziniert und freudig, mit der Hand darüber. Aber Sandra war bestimmt, ruhig und entschlossen, so daß er schließlich die gelbe Tasse nahm, ihren Rand einen Moment lang an seine Wange drückte, um sie dann auf den Boden zu stellen und zusammen mit weiteren Tassen zu einem Turm aufzustapeln.
    Die folgenden zwei Stunden spielten sie mit ihren Kindern und redeten. Sandra hatte zu allem eine feste Meinung und hielt damit nicht hinter dem Berg. Caroline liebte es, mit dieser klugen, mutigen Frau im Wohnzimmer zu sitzen und von Mutter zu Mutter mit ihr zu sprechen. In diesen Tagen sehnte sich Caroline oft nach ihrer eigenen Mutter, die nun schon fast zehn Jahre tot war. Dann wünschte sie sich, sie anrufen |133| und um Rat fragen oder einfach nur bei ihr vorbeikommen zu können, um Phoebe in ihren Armen liegen zu sehen. Ob ihre Mutter auch all diese Gefühle – Liebe und Enttäuschung – gehabt hatte, während Caroline aufwuchs? Sie mußte genauso empfunden haben. Plötzlich verstand Caroline ihre Kindheit anders als zuvor. Diese permanente Sorge um Kinderlähmung war auf ihre eigene, merkwürdige Art Liebe gewesen, genauso wie die harte Arbeit ihres Vaters und seine allabendliche, sorgfältige Konzentration auf ihre Finanzen.
    Zwar war ihre Mutter tot, aber dafür hatte sie Sandra. An diesem Morgen hatte Caroline mehrere Male ihre Autoschlüssel vor Phoebes Gesicht baumeln lassen. Sie blitzten im Morgenlicht, und Phoebes kleine Hände flogen mit gespreizten Fingern auf. Musik, Staubkörnchen im Licht und immer wieder die Schlüssel – was auch immer sie zu erreichen suchte, sie konnte es nicht fassen.
    »Nächstes Mal«, munterte Sandra Caroline auf. »Sei geduldig. Sie wird es schaffen.«
    Um zwölf Uhr half Caroline ihr, die Sachen ins Auto zu tragen, stand dann müde, aber glücklich mit Phoebe im Arm auf der Veranda und winkte Sandra, als sie ihren Kombi auf die Straße lenkte. Als sie wieder im Haus war, hörte sie, daß Leos Schallplatte hing und dieselben drei Takte ständig wiederholte.
    Streitlustiger alter Mann, dachte sie, als sie sich anschickte, die Treppe hochzugehen. Armer, einfältiger Gockel.
    »Könnten Sie das nicht etwas leiser stellen?« begann sie verärgert, als sie die Tür aufstieß. Aber Leo war weg.
    Phoebe fing an zu schreien, als ob sie eine Art Barometer für Streit und Anspannung in sich tragen würde. Er mußte hinten hinausgeschlichen sein, als sie Sandra geholfen hatte. O ja, schlau war er, obwohl er dieser Tage sogar manchmal seine Schuhe im Kühlschrank abstellte. Es bereitete ihm großes Vergnügen, sie auszutricksen. Schon dreimal war Leo ihr entwischt, einmal splitternackt.
    |134| Caroline eilte nach unten, schlüpfte in Doros Mokassins, die kalt und eine Nummer zu klein waren, und griff sich einen Mantel für Phoebe; sie selbst würde ohne gehen.
    Der Himmel war mit tiefhängenden grauen Wolken bedeckt. Phoebe wimmerte in ihrem Sportwagen und schlug mit ihren Armen wild um sich, als sie an der Garage vorbei auf die Allee gingen. »Ist ja gut«, murmelte Caroline und tätschelte ihren Kopf, »ist schon gut, mein Schatz.« Dann sah sie Leos Fußabdruck in einer angeschmolzenen Schneekruste. Der Anblick der großen Sohle mit dem Waffelmuster erleichterte sie. Dann war er also hier entlanggelaufen und hatte

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